Tageslicht 7

Ein Sommerabend und drei Zeiten

In ihre Zahnlücken ist sie vertieft, weniger ins Gespräch. Fährt die Zunge nicht durchs Mundgebirge, arbeiten die Kiefergelenke weiter, zuckt der Mund, es kreisen und rucken die Wangen. Kein Auge schaut bei dieser Unruhe auch nur für fünf Sekunden gerade aus sich heraus. Selbst die Ohren wackeln. Sie hört der anderen zu mit einem Teil von sich, das unsichtbar bleibt. Mit den gleichen Bewegungen verleibt sie sich später eine Eisskulptur ein, die sie allein für sich bestellt hat. Ihre Freundin erzählt weiter, was geschehen ist. Nur am Tisch nebenan sitzen Männer unter sich, diese vor Laptops. Sie handeln etwas aus, das Materie wird oder ist. Offiziere. Aber kein Vergleich: Offiziere nach Dienstschluss waren froh, frei zu haben und forderten Frauen an Nebentischen zum Tanzen auf. Diese hier wollen im Abendlicht Zukunft basteln. An anderen Tischen Paare, die sich zwischen langen Pausen manches zu sagen haben. Im Unterschied zu jenen zwei brüllend einsamen Herzen, den lautesten hier. Sie trinken am schnellsten. Er dreht mächtig auf, weil er eigentlich nichts von ihr will. Sie macht gern mit, weil es auf nichts hinausläuft. Für sie ist dieser Sommerabend pure Gegenwart. Alle warten auf das Gewitter.

8. Juli 2014

 

 

Musicless Musicvideo: David Bowie & Mick Jagger: Dancing In The Street

Bestseller

Vor dem Urlaubsflug bist du gut vorbereitet und stehst unter Spannung. Nichts darf jetzt schiefgehen. Wenn doch, was dann? Dein Wahrnehmungsausschnitt ist verengt auf etwas, das nicht eintreffen wird. Du hast akuten Realitätsverlust. Etwas hinter dir treibt dich nach vorn, hin zu etwas, das von dir fortweicht. Du bist gefangen. Was, wenn dieser Zustand nicht Ausnahme, sondern Alltag ist? Du bist dauerhaft unter Angst und Stress, verfolgt von etwas, hingetrieben zu anderem, und beides ist unsichtbar. Du bist Opfer. Welcher Macht? Du willst gut sein und richtig handeln. Es ist normal. Überall hörst und liest du, was gut und richtig ist. Andere Ansichten fallen auf. Andere Ansichten sind das Fremde, der abgelegte Teil deiner ehemals kompletten Person, an die du dich nicht mehr erinnern kannst. Der übriggebliebene Rest lässt sich nur ertragen, wenn du dich als absolut korrekt erlebst. Du monierst Falsches und Böses an anderen. Du stehst unter Stress und machst Stress. Deine Zwangsjacke lässt sich kaum abstreifen, wenn du sie einmal übergezogen hast. Sie schickt dich ferngesteuert durch die Gegend: gehetzt, gestresst, getrieben, gefordert, gecheckt, gebrieft, geduzt und geleimt. Du kannst nicht ausbrechen wie Michael Douglas in "Falling Down", der seinen Wagen im Autobahnstau stehen lässt und per Pumpgun mit allen Arschlöchern abrechnet, die ihm über den Weg laufen. Du machst weiter, hetzt und stresst und treibst und forderst und checkst und disst und duzt und leimst und schleimst. Jederzeit würdest du Stressland verteidigen. Du hast es ganz gern. Du hast für nichts richtig Zeit, weil alles gemacht werden muss, bist unterbezahlt und erfüllst die Gut-und-richtig-Vorgaben nach Kräften – sonst ist dein Selbstbild, also die Projektion des projizierten Fremdbilds, beschädigt, deine Restperson im Eimer. Einfach kaputt. Da müsste eigentlich "Falling-Down"-like etwas platzen. Aber es gibt ja noch so viel zu tun. Nicht nur du und dein Stressland, die ganze Welt soll gut sein und richtig handeln. Du, wehrhafter Verteidiger Stresslands, erhältst Nachrichten zugeteilt von politischen Aufständen, die nie etwas mit deinem tollen Stressland zu tun haben. Bist Zeuge eines Rebellionenhoppings, vorgestern Iran, gestern Tunesien, Libyen und Ägypten, für ein paar Wochen Syrien, neulich die Ukraine, etwas Türkei, manchmal die Sache mit den Uiguren. Damit verbunden: Dissidentenhopping. Vorgestern Timoschenko und Chodorkowskij, gestern Pussy Riots, immer wieder Ai Wei-Wei. In deinem Land ist Frieden, sagen die Nachrichten. Woher dann der Krieg in dir, fragst du dich. Stress brüllt nach Entladung, bekommt sie aber nicht in Stresslands Wirklichkeit. Denn Stressland muss bleiben. In den Urlaub nimmst du dir ein Buch mit, in dem gesagt wird, was gesagt werden muss, aber nicht gesagt werden darf, ein Buch, in dem endlich aufgezählt wird, wer dein schönes Stressland in Wirklichkeit bedroht und es abschaffen will. "Falling Down" in der Phantasie. Du liebst dein Land und deinen Zustand, alles soll bleiben wie es ist. Du bist nicht allein. Du liest den Bestseller des Jahres.

8. Juni 2014

 

 

Dezember in Lettland

Im Bus nach Daugavpils an den Gleisen und Rampen von Salaspils vorbeigefahren und der zehntausenden Ermordeten im Wald von Rumbula gedacht. Was wollten die Deutschen hier? In diesem Klima kann man nicht wirklich sein wollen. Höchstens verhindern, dass andere hier einreiten. Oder dass andere hier in Frieden leben. Sitze wieder in einem deutschen Bus. Notausgang. Links von mir die Bahnlinie Richtung Daugavpils. Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen. Von 11 bis 13 Uhr scheint Sonne auf den Schnee. 13.30 Uhr: Das Abendgrau setzt ein. Der lange Dämmer.

Jetzt im Bus von Daugavpils nach Riga. Ausstieg hinten. Auf schneebedecktem Flachlandfeld ein Werbeschild für das Hotel Orinoko. 15 Uhr taucht die Sonne knapp über dem Horizont aus dem Nebel auf, bevor sie untergeht, langsamer als im Süden. Stundenlanges Schauen auf  Schneewälder oder -felder macht einen seltsam. Wie stundenlanges Schauen auf's Meer.

Immer noch Schnee. Egal wieviel Schnee: Die modische lettische junge Frau wählt Schuhe mit höchstmöglichen Absätzen und schreitet mühelos durch den Schnee und über's Eis.

In eine Mittagskantine hinein, ohne ein Wort lettisch zu wissen und Kontakt aufgenommen mit den Verkäuferinnen, die kein Wort englisch kennen. Ergebnis: Ein Mittagessen (und dann noch eines).

Hier zieht es mich immer wieder in russische Lokale. Russen sind eine Minderheit im Land, und zwar eine große. Sie haben die westlicher gedeckten Tische und unaufdringlichere Musik (es gibt hier keinen Ort ohne Musik). Das Publikum: Strotzende Männer, behangene Frauen.

So viel Welthit-Popschrott wie in den vergangenen knapp zwei Wochen habe ich in den letzten fünf Jahren nicht in den Kopf geschossen bekommen.

Seit Tagen keine Sonne gesehen.

Inzwischen ist der Punkt erreicht, von dem an Selbstgespräche in Englisch getan werden.

In Mezaparks heute, beim Fotografieren des Geländes, auf dem das KZ Kaiserwald sich befand, spürte ich: mir frieren die Finger ab (fast).

Im Getto gewesen, erstmal nur in der Ludzus iela (Leipziger Straße). Heruntergekommen. Vielleicht das ärmste Viertel von Riga. Dort ein unglaublich schlechtes Mittagessen halb zu mir genommen. Dann I. im Jüdischen Museum getroffen und mit ihr essen gegangen. Sie erzählt zwei Stunden von Lettland. Ich entschuldige mich. Sie sagt, sie rede gern. Ich sage Danke.

Will heute nichts vom Krieg wissen. Mit dem Auto nach Jurmala gefahren. Seebad, mondän. Vielleicht so groß wie die Fläche von Ahlbeck bis Zinnowitz. Im usbekischen Restaurant seit langem wieder Knoblauch. Nirgends ist es weit bis zur nächsten Coca-Cola-Reklame.

Vokale, Melodie und Tonlage – ich liebe die Aussprache der meisten Lettinnen. Tonlage: tief. Melodie: lebendig, schwingende Hebungen, krasse Senkungen. Vokale: Dem a ist ein o beigemischt, dem e ein ö. Wunderbar auch das weiche ch! Die Männer klingen viel flacher, unprononcierter. Lange Zeit wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass sie die gleiche Sprache sprechen wie ihre Frauen.

Die Busbahnhofshalle in Ventspils stinkt nach Schnaps, als ich ein Ticket für den nächsten Tag kaufe. Ein Mann mit verbranntem Gesicht, dem man noch eine fremde Abstammung ansieht, nicht aber, welche, bettelt aufdringlich, bestaunt von anderen mitgenommen und doch liegengelassen wirkenden Männern, die den Heiligabend dort verbringen. Einer von ihnen liest einen dicken Roman.

Was bleibt, sind die schwierigen und ungewissen Reisemomente, die am Ende Lösung und Auflösung bieten. In Cassis am Abend mit dem Auto eine Steigung hinauf zum Rand der Klippe, und wer weiß wie viele Meter vor dem Abgrund blendet die Abendsonne frontal, dass gebremst werden muss mitten auf der Straße oder wo – nicht wissend, ob das Bremsen eine Gefahr verhindert oder selbst die Gefahr ist. Zimmersuche auf der Krim, wo weit und breit niemand ein Wort einer Sprache kennt, von der ich auch nur eine Ahnung hätte. Marihuana kaufen in Roppongi oder bei dem Hotelmanager in Daressalaam, der wahrscheinlich auch ein Polizist ist. Oder Nachtspaziergänge dort in Strandnähe, an schwer bewaffneten und unterbezahlten Watchmen vorbei, die vor den Häusern sitzen, halb schlafend und halb wachend, und stets den Finger am Abzug.

Seit drei Wochen schneit es ohne Pause. Alle zwei Stunden werden die gleichhohen Neuschneeberge von den Gehwegen an die Ränder gefegt, wo die Altschneegebirge jetzt so hoch sind, dass man die gegenüber liegende Straßenseite nicht sieht.

 

Warum tu ich mir das an? Arbeit.

3. Mai 2014

 

 

Thievery Corporation, Sweet Tides (Acoustic Version)

Die Geschichte der Harald-Schmidt-Show

Fertig

Ein paar Absätze korrigiert. Schlachtfeld hinterlassen. Das soll die neue Fassung sein.

 

Ein Schriftsteller, der nicht schreibt, ist kein Schriftsteller.

 

Dreimal eine Geschichte erzählt und sie dreimal falsch erzählt. Zu nah dran, zu weit weg, zu verknappt, eine Tour durch den Falschgarten. Man will es nicht zugeben, aber Schreiben ist Scheitern, wenn auch manchmal auf geglückte Weise. Auch Leben ist Scheitern. Das ist die Wahrheit. Aber nicht die ganze.

28. Januar 2014

 

 

Ein Autor sieht rot

An manchen Schriftstellern der sechziger und siebziger Jahre hat genervt, dass sie ihre Kraft zum gesellschaftlichen Widerstand aus persönlicher Enttäuschung bezogen. Sie meinten die Wahrheit mit Löffeln gefressen zu haben und diffamierten andere, die nicht ihrer Meinung waren, in merkwürdigen und damals schon irgendwie aus der Zeit gefallenen Sprachbildern zum Beispiel als "Defätisten, die es sich auf dem Hochsitz der pessimistischen Weltanschauung bequem gemacht haben und dem Spirituellen in Totengräberarien frönen", oder als "Maximalisten, die jeden Veränderungsvorschlag mit ihrem absoluten Anspruch wegfegen, um sich zur Lethargie zu betten ... Minimalisten hingegen suchen das Haar in der Suppe und strangulieren damit das ganze Projekt", oder als "Connaisseurs, die ein ganzes Wagner-Jahr lang unerwähnt gelassen haben, dass der Komponist 1849 Flugblätter von der Kreuzkirche zu Dreden hinabwarf und auf den Barrikaden für mehr Freiheit kämpfte", oder schlicht als "Sektierer" oder "Nörgler".

 

Diese Zeit des Autors, der sich in gesellschaftlichen Fragen für den absoluten Durchblicker hält und alle beschimpft, die ihm nicht folgen, ist vorbei, könnte man denken. Aber sie lebt weiter. Ilija Trojanow ist Mitinitiator eines in 30 internationalen Zeitungen erschienenen Protests von 562 Schriftstellern gegen die Aktivitäten der NSA. Sehr gut. Musste sein. In den Wochen danach äußerten sich allerhand Mitarbeiter des kulturellen Betriebs zu diesem Protestschreiben, oder sie wurden von Journalisten um Stellungnahmen gebeten. Es kam zu unterschiedlichen Aussagen der Befragten. Auch sehr gut. Weiter so. Ilija Trojanow ist anderer Meinung. Seiner. Sie soll für alle gelten. Er hat in der Tageszeitung ein Pamphlet veröffentlicht und ist in einem politbüroreifen Jargon der Ausmerzung, dem ich seit Jahrzehnten nicht mehr begegnet bin, gegen alle zu Felde gezogen, die in der Frage, was so ein Protestbrief bewirken kann, nicht seiner Meinung sind, fein säuberlich unterteilt in mehrere Gruppen und ohne einen einzigen Namen zu nennen. Alle Zitate hier am Anfang sind von Ilija Trojanow und stammen nicht aus den sechziger Jahren, sondern vom 8. Januar 2014.

 9. Januar 2014

 

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