Tageslicht 14

Amanda Palmer & Jherek Bischoff, Mother

Das schwere Auto

Ein weiter Platz, ein Imbisshäuschen und eine Bushaltestelle. Links im ehemaligen Rathaus ein Flüchtlingsheim. Hinter mir sitzt ein Pärchen mit Kleinkind, das ich nicht höre, links neben mir eine junge Frau, die sich durch eine Wochenendausgabe arbeitet, rechts eine ältere, deren Tabakrauch zu mir zieht. Leute gehen vorbei, nebenan ist ein Supermarkt. Manche sind schon in Ausgehgarderobe unterwegs. Fahrradfahrer. Kein Wind und wohlige Wärme. Eine Frau setzt sich auf die Bank am Baum. Sie zieht ihr Handy hervor, schaut kurz drauf und dann zu den hier Sitzenden. Sie verdeckt den Blick zur Bushaltestelle. Will sie etwas mitteilen? Nein, sie sitzt nur da und schaut uns an. Merkt sie es? Das Imbisshäuschen, die Haltestelle, die breite bewachte Pforte des Flüchtlingsheims, die Weite des Platzes, sie sind aus meinem Blickfeld verschwunden, seit jemand hierher schaut, als seien wir im Zoo. Zoobesucher wiegen sich in Sicherheit. Orang-Utans sitzen einfach da und gucken zurück. Manchmal geht ihnen das Geglotze auf die Nerven und sie spucken gegen das Glas oder strecken die Zunge raus. Im Grunde sind ja sie es, die, wie im Zoo, eine sich vorbeiwälzende Meute anstarren ohne zu fürchten, dass ihnen weiteres angetan wird. Jetzt bleibt ein Mann vor dem Café stehen, blickt kurz aufs Handy und schaut her. Warum stört mich das, wenn jemand da steht, wo andere sitzen? Der Vater war ein Aufmerksamkeitsab- und -aufsauger. Aber ich habe gelebt. Ich bin nicht mehr sein Kind, obwohl ich weiß, mein Leben lang bin ich sein Kind. Aber mit Hinweisen auf die frühe Prägung will ich mich nicht davonkommen lassen. Als ich einmal sehr krank war, war mir alles andere übrigens egal. Ich befand mich in einem klar definierten Tunnel. Mein Leben war so übersichtlich wie nie zuvor. Eben hat sie sich zur Seite gedreht. Nun starrt sie Leute an, die aus dem Supermarkt kommen. Ich beginne sie zu vergessen. Der Platz vor mir öffnet sich wieder. Auf das Imbisshäuschen drüben wurde neulich geschossen. Mehrmals. Scheiben zerstoben, niemand verletzt. Vielleicht eine Warnung. Mehr hat man seitdem nicht gehört.

 

Im letzten Sommer spielten Flüchtlingskinder auf diesem Platz. Ihre Mütter in langen Gewändern gingen ein und aus, immer an drei vier Bewachern vorbei, die in der Pforte stehen. Leute, die Schutz suchen, müssen geschützt werden. In diesem Jahr gibt es dieses Reinraus nicht mehr. So ist das. Eben Jubelschreie von der Straßenseite hinter dem Platz. Bayern liegt 0:2 zurück. Die Liga wird vielleicht wieder spannend. Die Elite ist nichts, was man schützen muss. Die Frau links von mir will den Rauch der Frau rechts von mir nicht haben. Ich will ihn auch nicht haben. Aber wir sitzen in einer Großstadt unter freiem Himmel. Man weiß, was einem nicht gut tut und tut es trotzdem. Vielleicht würden Raucher das Rauchen lassen, wenn sie ahnten wie es wenige Stunden vor der großen Operation in den Liebsten zugeht. Manchmal rutschte die Hand des Vaters mit Wucht hinunter, es war die Zeit, das war normal. Er schaute mich an, ich wollte nicht angeschaut werden. Oft sagte er nichts und schaute nur hart. Ich schmolz in den Boden. Erstmal. Später stattete ich mich mit Scheuklappen aus, um seiner Pantomime zu entkommen. Reichte das nicht, dann senkte ich den Blick. Ich wollte bei mir sein. Erst bei mir war ich ich. Seit einer Weile boxen zwei Jungs aus dem Flüchtlingsheim gegeneinander. Sie führen schnelle und präzise Schläge aus und stehen etwas zu weit entfernt, um sich zu treffen. Sie spielen es gut. Sie haben oft Boxern zugeschaut. Eine Limousine rollt heran und hält auf ihrer Höhe. Der Fahrer spricht sie an. Sie sprechen mit dem Fahrer. Der Motor läuft. Gut, es war die Zeit, man schlug seine Kinder, manche mehr, andere weniger, andere gar nicht. Aber ich habe, wie gesagt, gelebt. Irgendwie ist es billig, jetzt über die Eltern zu klagen. Andersrum: Kann ich dem Vater nicht auch dankbar sein? Seine Machtpantomime schärfte meine Sinne. Demagogen, Wahrheitsprediger, Hausierer des Durchblicks hatten bei mir keine Chance. Ich erkannte sie sofort. Wie sie sich aufbauten und blähten. Ich konnte sie von Autoritäten unterscheiden. Das schwere Auto ist davongerollt, die Jungs boxen wieder. Die Abgaswolke weht herüber. Sie macht mir Angst. Kein Flüchtlingsjunge.

 

Eine Rollstuhlfrau versucht etwas zu verkaufen, Heft oder Zeitschrift, ich weiß es nicht, es interessiert mich nicht, ich schaue den boxenden Jungs drüben zu. Ich sage freundlich nein. Übrigens hasse ich Leute, die arme Menschen nicht achten. Neulich fallen fünf Businessleute aus einem Hauseingang, rauchen und reden. Ein Bettler stellt sich neben sie und sagt leise seinen Spruch auf. Sie schenken ihm nichtmal einen Blick. Doch der Bettler bleibt da stehen. Und er ist noch lange nicht fertig, denn er spricht jeden einzeln an und schaut ihm in die Augen. Erst als er ohne Erfolg weitergeschlurft ist, reden sie über ihn. So lange sie da draußen stehen, reden sie über nichts anderes mehr. Die Frau fragt, ob ich ihren Rollstuhl über die Schwelle des Cafés schieben könne. An der Schwelle mache ich irgendwas falsch. Sie knickt vornüber und ich sehe sie aus ihrem Gefährt fallen. Dann erst kapiere ich. Blockiere ein Hinterrad mit der Schuhsohle und drücke den Wagen hinten runter, so dass er sich vorne hebt. Die Frau, die bis eben auf der Bank saß, ist aufgestanden, weil ihre Verabredung gekommen ist. Sie schauen auf die freien Stühle hier, aber es ist ihnen wohl zu kühl, draußen zu sitzen, drinnen ist es voll, und sie gehen weiter. Endlich freie Sicht. Ich schaue aufs Handy. Die Bayern liegen immer noch 0:2 zurück. Freie Sicht ist wichtig, klar. Freier Raum ist gut. Eine Seele braucht Platz. Ein Ichsein findet in Räumen statt. Ohne Raumgefühl kein Ichgefühl. Ich liebe Eigengeräusche von Räumen. Es sind Erweiterungen des Gehörs. Und es ist das umrissene Feld, innerhalb dem gehört wird. Es gibt Leute, die schon lange zu hören sind, ehe man sie sieht. Manche pfeifen ohne Pausen, pusten und zischen. Aber nur wenn sie Räume anderer wittern. Heute morgen stöhnte ein Bewohner der Überholspur am Ende seiner Trainingseinheit so zudringlich, dass ich meine Übungen abbrach, weil ich mich nicht mehr konzentrieren konnte. Später sah ich ihn Dehnübungen machen am belebtesten Platz in der Trainingsarena. Auch so einer. Der trockenste Sommer, den ich je erlebte, findet im Herbst kein Ende. Mitte November, und der letzte Regen muss im April oder Mai gewesen sein.

10. August 2019

 

 

Jan St. Werner, Glottal Wolpertinger Feedback Band 3/B

Blaue Augen schwarzes Haar

Es ist immer zu hören, und das ist keine Übertreibung. Ich warte auf den Tag, an dem ich überhören kann, wie die Flut alle zwölf Stunden gegen das Haus schlägt. Selbst bei Ebbe dringt das Rauschen durch die geschlossenen Fenster. Eines Tages wird dieses Haus Opfer des Meeres werden. Zweimal am Tag wird die untere Terrasse mit Wasser und aufgespültem Meeresbodenzeug überzogen. Von der Terrasse kann man eine Leiter hinunterlassen und den Strand erreichen, sofern nicht Flut ist. Eine zweite, größere Terrasse befindet sich auf dem Dach des Hauses. Dort ist man neben dem Rauschen und Donnern des Meeres dem nie pausierenden Westwind ausgesetzt, und auch das ist keine Übertreibung. Früher mochte ich einige Romane von Marguerite Duras, die am Meer spielen und in deren Mittelpunkt eine Erzählerin oder weibliche Hauptfigur stehen, die ein Haus oder eine Wohnung am Meer bewohnen. Ihre Erinnerungen und Sehnsüchte scheinen von abertausend Geräuschen des Meeres angetrieben zu sein. Zuerst sprachen diese Büchern mich nicht an. Erst Jahre später, während eines heißen Sommers, fand ich Gefallen an diesen Romanen und las sie ein weiteres Mal, einige noch öfter, auf einer Wiese im Charlottenburger Schlosspark, und ich wünschte mir ein Dutzend Romane von Marguerite Duras, die am Meer spielten, aber ich besaß nur die, die ich besaß, und las sie also noch einmal. Mehr solcher Romane schrieb Marguerite Duras nicht mehr, die, die ich mochte, gehörten zu ihren letzten. Gern würde ich jetzt aufstehen und zu dem Regal gehen, in dem diese Bücher bereit stehen, aber ich verbringe diese Wochen selbst am Meer. Zwischen dem Erdgeschossraum mit einer Küche und der Dachterrasse befindet sich ein weiteres Stockwerk mit zwei Räumen und einem Bad. In einem Raum schlafe ich, im anderen liege oder sitze ich auf einem Bett und lese, schreibe oder recherchiere, wie ich hier meine Tätigkeit nenne, die am Laptop stattfindet. Dies ist der einzige Raum im Haus, dessen Fenster zu einer nachmittags belebten Gasse zeigt, alle anderen bodentiefen Fensterfronten geben den Blick zum Meer frei. Inzwischen verrichtet die Flut ihr Werk nicht mehr allein zu den Schlafzeiten, nachts und nachmittags. Aus den Romanen von Marguerite Duras, die ich damals las, war alles Kleinteilige und Kantige weggeschwemmt, nur noch Großes und Ganzes sprach zu mir, ohne Bestimmtes zu sagen und doch vom Leben zu sprechen. Was mir beim ersten Lesen dieser Romane zu wenig war, das war mir jetzt genug, mehr noch, das erfüllte mich. Ich habe hier am Ort wie gesagt nicht das Buch zur Verfügung, an das ich die ganze Zeit denke, doch eben rief ich eine Instanz auf, die mir vielleicht Auskunft gibt, ob meine Erinnerung zutreffend ist. Google. Viel ist dort nicht zu erfahren, eine knappe Inhaltsangabe, in der vom Meer nicht die Rede ist, aber immerhin von einer kleinen Urlaubsstadt, und außerdem ein Zeitschriftenartikel, in dem die angeblichen Männer der Autorin aufgezählt sind und über die Lebensumstände der Frau sonst nur zu erfahren ist, dass sie Alkoholikerin gewesen sei. Dazu immerhin ein paar Sätze aus dem Roman, an den ich hier die ganze Zeit denke. Auch in diesen Sätzen ist nicht vom Meer die Rede, sondern da steht ein in Prosa gehaltener Dialog zwischen dem Mann und der Frau, die sich in dem Urlaubsstädtchen getroffen haben. Überdies las ich, der Mann sei homosexuell und die Annäherung der beiden zum Scheitern verurteilt. An nichts von all dem kann ich mich hier erinnern, sondern nur an eine Erzählerinnenstimme, die das Meer zu ihrem Thema hat. Ähnlich wie in diesem Haus am Meer, in dem ich in diesen Wochen wohne, das Meer mein Thema ist oder werden könnte oder bis eben war.

18. März 2019

 

 

Gelobtes Land

Das Land wird gelobt, das Land lobt sich selbst, am Unausweichlichsten, bevor Wahlen zum Parlament anstehen. Die Zahlen sprechen für einen ungeheuren Reichtum. Es gibt auch andere Zahlen, die von Armut erzählen. Diese Zahlen hören wir von den Spielverderbern. Der Reichtum des Landes ist schwer zu bestreiten, und viele Bewohner fragen sich, warum so viele Dinge des Alltags im reichen Land nicht funktionieren. Darauf gibt es Antworten, der neueste Kapitalismus. Schon klar, mag sein. Doch erklärt es vielen immer noch nicht, warum ihr Alltag unter oft schäbigen Bedingungen abläuft. Damals gab es nicht viele reiche Staaten. Arme Staaten waren die Regel.

 6. März 2019

 

 

Und jetzt Werbung

Wie ein Spielzeug hing hier in der Straße ein meterdickes Rohr am Seil eines haushohen Krans. Eine Baustelle war aber nicht zu erkennen. Später standen zwei Arbeiter beisammen, rauchten und schauten zu Boden. Dort stand eine Litfasssäule, beklebt mit großformatigen Plakaten für Musikshows, nun hing sie nackt und hohl in der Luft. Am Gleisbettrand der nahen S-Bahn-Station wird eine Werbewand nicht mehr beklebt, alte Schichten quellen auf oder reißen ab. Auf der anderen Seite der Station ist voll plakatiert. Der Trend geht zu Schaukästen, in denen alle paar Sekunden verschiedene Motive durchlaufen, oft begleitet von Reibegeräuschen. Litfasssäulen sind leise.

 

Gescheitert der Versuch, vor und in verschiedenen Raststättenrestaurants zwischen Berlin und Nürnberg einen werbefreien Anblick zu erwischen. Selbst beim Urinieren lief direkt vor dem tätigkeitsüblich leicht gesenkten Gesicht auf einem 10-Zoll-Display ein Werbefilm. Mit den Worten der Toilettenwerbungsfirma Swiss Invent: "Zielgerichtete, verlustfreie Werbung für Mann und Frau". Die Toilettenräume waren geschmackvoll gekachelt. Kein zusammenhängender Quadratmeter davon war sichtbar.

 

Sollte die abgeräumte Litfasssäule in meiner kleinen Straße ersetzt werden, dann wohl durch eine "Kultursäule". Die dafür zuständige Firma Ströer wie auch die Firma Swiss Invent werben damit, dass ihre Werbeflächen digital steuerbar seien. Vor jeweils einem Urinal der Raststättenrestauranttoiletten versprachen leere Displays in Dauerschleife: "Android is starting". Die Berlin möblierende Firma Ströer bietet auch die "Entfernung von Wildplakatierung" an.

 20. Februar 2019

 

 

Roomful of Teeth, Caroline Shaw's Partita for 8 Voices

Warm angezogenes Gedicht

Denk ich an meine Generation,

die bei Wind und Wetter mit halber Jacke geht -

Der Mantel, angelweit offen, flog mir hell vom Leib.

Ich kannte nicht Mütze, nicht Schal oder Handschuh.

Meine Gedichte, sie zitterten.

Eine Kaltfront zieht heran. Schamlos setzen wir Pelzmützen auf,

ich meine: du und ich.

Komm jetzt, schwing zur Tür herein. So leicht soll das sein.

Wie zwei Millimeter Naserümpfen,

und noch leichter als Schneeflockenfall.

Aber bitte fingerhebend wie das Wort Ja.

Die Vorratskammer ist voll. Wir bleiben zuhaus bis Montagfrüh.

Es geht jetzt um Wollpullover und Vorschneestille.

Unsere Kinder führen den Krieg der Scheinheiligen gegen die Heiligen.

Es ist unser Krieg. Wir wollen nichts davon hören.

Es geht jetzt um Hüttenschuhe und Pulswärmer.

Um Lavendeltöl und Melissentee.

Eine Kriegsfront ist nicht zu erkennen.

Wer ist bloß der verdammte Feind?

Wir sind so vernünftig, dass die Vernünftigen uns nicht verstehen.

Wie du zu meiner rechten Hand liegst

dich aufbäumst und in diese Mulde passt -

Es geht jetzt um Pockenimpfstoff für alle.

Gefahr für die Bevölkerung bestehe nicht.

Eine Physalis hoppelt dein Zwerchfell hinunter,

die reife Lychee lässt sich pellen wie ein Ei,

und eine Feder fliegt hoch aus dem Bett.

Ein Tag wie im gemachten Traum.

Komm her. Oben die Feder schwebt um ihr drittes Leben.

Es läuft auf einen Fernsehkrieg hinaus

mit Bergamotte-Duft und bunter Desinformation.

Wir bleiben die Exportnation, auch unbemannt.

Es liegt in den Familien.

Es liegt in uns.

Komm her.

1. Januar 2019