Tageslicht 11

Resonanzvirtuosen und Affektmanager

Neulich sonntagabends, kurz nach halb elf: Anne Will fragt ihre Gäste, ob man "in dieser aufgeregten Stimmung" noch die richtigen Fragen stellen und ob man noch nüchtern diskutieren dürfe. Dürfe! Hatte ich die Einführung einer Diktatur verpasst? Leben wir im Notstand? Und welche "aufgeregte Stimmung" meinte sie? Es war am Ende einer Talkshow-Woche mit diesen Themen: Erstens: "Neues Deutschland: Bringt Härte gegen Zuwanderer mehr Sicherheit?" Zweitens: "Terror mit Ansage – was tun mit den Gefährdern?" Drittens: "Bürger verunsichert – wie umgehen mit kriminellen Zuwanderern?" Unablässig wird von Angst geredet, und sie verbreitet sich desto schneller, je mehr von ihr geredet wird.

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24. Januar 2017

 

Aus der Nacht in den Abend

Ich habe hier eigentlich nichts zu suchen. Ich schaue die Häuserkästen an, fühle nichts und erinnere mich an nichts Besonderes. Einkaufszentrum nennt man diese Flachbauten mit gerissenen Dämmplatten. Die Hälfte der Läden steht leer, übrig sind ein Billigrestaurant, ein Schuster und der Kiez-Treff Tu-nix mit drei Männern um die 50 und drei Bierflaschen. Sie unterbrechen ihr Gespräch. Ich bin ihnen nicht geheuer. Ich gehöre nicht hierher. Ich könnte einen Plan haben. Ein Moment, wie wenn Dörfler in ihren Dörfern an mir den Städter rochen. Die sehr Alten zogen während des Wirtschaftswunders hierher. Hier lebte mal eine Mittelschicht. Buddelkästen und Gerüste sind voller Kinder, daneben auf den Bänken ihre Mütter. Zwei Drittel der Bewohner sind heute Einwanderer; viele wohnen schon lange hier. Das Tageslicht rutscht beiseite. Am Rand der Siedlung stehe ich in dem Licht von früher, wenn wir in den Abend hinein spielen, bis die Bälle unsichtbar sind. So düster es auch wird, erst spät in der Nacht verliert der Himmel hinter den Schnellstraßen seine Farben, und manchmal auch nicht. Das Leuchten zeigt uns, wo die Stadt ist. Unter diesem Himmel gehe ich zum Kreisverkehr vor. Hinter mir ist es Nacht. Der Abendhimmel ist weit – was dem Kind versichert: Es gibt ein Leben, zwar nicht hier, aber dort, im Leuchten. Auf dem Rückweg sitze ich in der U-Bahn wie ausgeknipst.

24. Dezember 2016

 

 

Alejandro Jodorowsky, POESIA SIN FIN (2016)

Warnung vor alleinreisenden jungen Männern

Sie sind mitten unter uns. Sie fallen nicht sofort auf. Sie grüßen. Sie sind freundlich und zuvorkommend. An Bahnhöfen sieht man sie in Gruppen. Oft stehen sie dort einfach rum. Sie wirken nicht verdächtig. Mit geübtem Blick erkennt man sie am Äußeren, denn sie gleichen sich. An manchen Orten bilden sie in Windeseile eine Mehrheit. Genauso schnell, wie sie gekommen sind, verteilen sie sich wieder in alle Richtungen. Sie sind nicht Teil von uns, obwohl sie sich so geben. Sie haben andere Interessen als wir. Wenn sie in ihren Häusern untertauchen, arbeiten sie gegen uns. Dort planen sie Anschläge auf den sozialen Frieden, unser Gemeinwesen, unser Land. Sie arbeiten für Auftraggeber, die nicht unsere Interessen vertreten. Sie gehören nicht zu uns. Achten Sie auf alleinreisende junge Männer, besonders in 1.-Klasse-Waggons der Deutschen Bahn und an Flughäfen.

5. November 2016

 

 

Skandal! Die AfD ist nicht mehr rechtspopulistisch

Bis vor kurzem wurde die AfD in der Tagesschau "rechtspopulistische AfD" genannt. In vielen Radiosendern und Zeitungen ist das immer noch so. Die Tagesschau erklärte, "dass es der permanenten Einordnung durch dieses Attribut nicht mehr bedarf". Man müsse lernen, "die AfD als eine demokratisch legitimierte Partei zu behandeln". Wer Wahlergebnisse lesen kann, hatte schon länger die Vermutung, dass die AfD demokratisch legitimiert ist. Aber was meint der Chefredakteur der Tagesschau wohl mit diesem Gegensatz? Da sie "demokratisch legitimiert" sei, nenne man sie nicht mehr "rechtspopulistisch". Natürlich kann eine demokratisch legitimierte Partei rechtspopulistisch sein. Wollte man der AfD ein Attribut zuweisen, so stünden schon einige zur Verfügung:

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1. November 2016

 

Fatoumata Diawara & Amine Bouhafa: Timbuktu Fasso

Vatersein und Sohnsein

Vater zu sein ist keiner Rede wert. Nur Sohnsein interessiert. Wie bin ich behandelt worden, was ist mir gegönnt, was verwehrt geblieben, hatte ich eine glückliche Sohnkindheit, wurde ich geschlagen, gehätschelt, gefördert, geschubst? Das will die Welt wissen. Das wollen Söhne erzählen. Väter erzählen nichts über ihre Vaterschaft. Väter werden nicht gefragt. Um Söhne sorgt man sich. Söhne schaut man prüfend an nach Spuren ihrer Sohnkindheit. Söhne antworten gern, wenn sie nicht längst von selbst erzählen. Söhne sitzen an Sohnbüchern, es war so schlimm, es war auch schön. Vätern fällt nicht im Traum ein, Vaterbücher zu verfassen. Vaterbücher werden von den Söhnen mitverfasst in ihren Sohnbüchern. Die Mutter hat zwei Gastauftritte mit Schürze, Küche, Sülze und anderen ü's. Im wirklichen Leben spielte der Vater mit dem Sohn, nachdem die Mutter den Dreck weggeräumt hatte. Ein Sohn kann sich nicht ohne Vater denken. Väter können sich mühelos ohne Sohn denken. Ein Sohn ohne Vater kann sich noch weniger ohne Vater denken als ein Sohn mit Vater. Ein Sohn hat eine Kindheit, die er nie verliert. Ein Vater hat eine Vaterzeit, die irgendwann vorüber ist. Er hat die Vaterschaft, doch keine Vaterheit, das Wort gibt es nicht. Erzählt Sohn von seiner Kindheit, dann abendfüllend, Kindheit interessiert immer, Kindheit hatte jeder, während Vaterzeit schnurzegal ist, da muss Vater durch, sein Problem. Kindheit hat man nicht gewollt, ist reingeworfen worden, ohne höfliche Anfrage und Chance, zu sagen, nein danke, macht euch mal andere Kinder, ich warte auf andere Eltern. Vater zu werden ist Entscheidung oder Dummheit. Sohn zu sein ist Schicksal.

 11. September 2016

 

 

Pizza Lamborghini

Unsere Pizzen waren groß wie Minigolfringe. Hielt ich ein Stück hoch, guckte ich durch den Teig und sah den Kudamm milde koloriert. Auf alten Familienfotos sitzen wir in der Badewanne, und ich sehe aus wie ein Spielzeug der sechs Jahre älteren. Das letzte gemeinsame Foto stammt vom Tag ihrer Konfirmation. Sie hat hochgesteckte Haare wie Elke Sommer in Und sowas nennt sich Leben, trägt das Kostüm eines anständigen Mädchens und sieht stolz aus. Ich habe einen grünen Cordsamtanzug an und blinzele. Wir stehen auf dem Ruinenfeld rings um die wiederaufgebaute Matthäi-Kirche, wo die Konfirmation stattfand. Meistens, wenn wir uns trafen, kamen wir auf die Nachkriegszeit, die unsere Jugendzeit war, oder auf den Krieg der Eltern zu sprechen. Es beschäftigte Irene immer noch, ob unser Vater jemanden im Krieg getötet hatte. Ich konnte diese Frage nicht mehr so ernst nehmen wie früher. Ich hatte Lust, sie zu provozieren.

 

Ist es wichtig zu wissen, ob er jemanden erschossen hat?

 

Ich finde schon.

 

Interessiert es dich genauso, ob er ganz knapp einem Schuss entgangen ist?

 

Ich will ja nur wissen, ob er Unrecht getan hat.

 

Willst du auch wissen, ob Mutti jemanden erschossen hat?

 

Die hatte doch gar keine Waffe.

 

Meinst du? Bist du dir sicher?

 

Wieso? Soll da was gewesen sein?

 

Naja, angeblich hatte sie keine Waffe. Mehr wissen wir nicht. Warum verdächtigst du ihn?

 

Ich verdächtige ihn nicht, ich würde nur gern wissen, dass er niemanden getötet hat, als Bestätigung sozusagen.

 

Und wenn du wüsstest, er hat jemanden getötet?

 

Eine riesige italienische Familie machte sich an einem riesigen Tisch breit und schickte die Kinder nach draußen. Dort röhrte ein weißer Lamborghini vorbei, dahinter ein silbergrauer Audi. Auf Fenstersimsen lagen Romane und Bildbände. Verbirgt sich Lust in dem Gedankenspiel, Tochter eines Mörders zu sein? Grauen? Kitzel?

 

Wenn ich wüsste, dass er jemanden getötet hat, dann hätte ich Klarheit, sagte sie.

 

Nach dem Umzug teilen wir uns ein kleines Zimmer. An ein Zusammensein in diesem Zimmer kann ich mich nicht erinnern. Sie ist schon siebzehn. Fotos aus dieser Zeit zeigen sie mit ihrer Freundin, oder mich allein. Wenn ihre Freundin kommt, gehe ich woanders hin. Sie zieht bald in eine Studenten-WG. Besucht sie uns, hört man von weitem den 2CV ihres Freundes um die Ecken schleudern. Er holt sie auch ab, betritt aber nie unsere Wohnung.

 

Ich frage mich manchmal, warum höchstens einer von hundert darauf kommt, dass wir Geschwister sind, sagte ich.

 

Das frage ich mich manchmal auch.

 

Ist das dein Ernst?

 

Na sieht man denn nicht, dass wir Geschwister sind? Ich finde, man sieht das.

 

Woran sieht man das denn?

 

Na an den Augen.

 

Und sonst?

 

Am Lächeln vielleicht.

 

Find ich nicht.

 

Doch. Man sieht es insgesamt, auch an der Ausstrahlung. Manche sagen, es sind die Augen, manche sagen, es ist der Mund, jemand sagte mal, er sieht es an den Augenbrauen.

 

Es ist so eine Frage wie die, ob der Vater als Soldat jemanden getötet hat oder nicht.

 

Wie bitte? Versteh ich nicht.

 

Deine Haare sind blond, meine dunkelbraun. Ich finde nicht, dass wir uns besonders ähnlich sehen. Meinst du, wir würden jemals erfahren, was wirklich Sache ist?

 

Wie? Möglicherweise sind wir gar nicht? Das ist doch nicht dein Ernst!

 

Ich meine, gegenüber jeder sogenannten Tatsache kann man den Verdacht hegen, dass alles anders ist, als man zu glauben sich angewöhnt hat.

 

Man kann sich zum Beispiel diesen Morgen im Badezimmer unserer Eltern, als sie gestürzt ist, auch ganz anders vorstellen, als er erzählt worden ist.

 

Wie denn?

 

Was tust du, wenn jemand bewusstlos im Badezimmer liegt?

 

Ich versuche zu helfen oder rufe einen Notarzt an.

 

Papi sagt, er hat den Hausarzt angerufen. Aber er hat ihn nicht erreicht.

 

Das hörte ich zum ersten Mal. Ich war darüber, dass er zuerst den Hausarzt anrief, genauso fassungslos wie darüber, dass ich diese Geschichte zum ersten Mal hörte.

 

Wen hat er dann angerufen?

 

Dann hat er abgewartet und es noch ein paarmal beim Hausarzt versucht, aber der war immer noch nicht da.

 

Während Mutti bewusstlos im Badezimmer lag?

 

Ja. Und dann erst hat er die Feuerwehr angerufen. So sagt er es jedenfalls. Aber wer weiß.

 

Woran denkst du?

 

Wer weiß, was da wirklich passiert ist an diesem Morgen.

 

Was meinst du, ist passiert?

 

Das werden wir wohl nicht mehr erfahren.

 

Sie hatten gewendet, der silbergraue Audi kachelte vor dem weißen Lamborghini kudammabwärts. Unter dem großen Tisch nebenan verknoteten zwei Kinder Schuhbänder der Erwachsenen. Draußen fiel ein Fahrrad zur Seite. Der Kellner wischte Menus von der Tafel. Jetzt gab es nur noch Pizza und Salate. Wir redeten über was anderes.

 28. Juni 2016

 

 

Wenn Hitlers Hoden Politik machen

Politiker und ihre Berater achten peinlichst darauf, dass ihr persönliches Auftreten nicht mit sexuellen Konnotationen in Berührung kommt. Politik ist in aller Regel ein durch und durch entsexualisierter Bereich. Deshalb sehen wir reihenweise schlecht geschnittene Männerjacketts, deshalb tragen Politikerinnen meistens Hosenanzüge. Politiker verkleiden sich nicht, wie Schauspieler, für irgendeine Rolle. Politiker spielen die Rolle, sie selbst zu sein. Ihr höchstes Ziel ist es, authentisch rüberzukommen. Fällt einer oder eine von ihnen aus dieser Rollenzuteilung heraus, wirft das sofort Fragen nach der Seriosität ihrer Politik auf.

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