Tageslicht 17

Das Ding Erinnerung

Wir saßen bei Seemann und redeten wieder mal von früher, und Pablo fragte mich, wann ich endlich eine dieser Geschichten rausbringen würde, die sie sich Jahre später immer noch erzählten.

     Die Geschichten würden sich verkaufen wie Coca Cola, sagte Seemann.

     Du weißt nicht, auf welchen Schätzen du sitzt, sagte Pablo.

     Aber ich winkte wieder mal ab und sagte, irgendwas müsse ich doch für mich behalten, gerade, wenn man sich so veröffentlicht hat wie ich. Danach war eigentlich immer Ruhe, weil sie mich kannten und wussten, ich würde meine Meinung nicht ändern, und weil ich sie kannte und wusste, sie würden mich nicht weiter löchern. Diesmal war es anders. Sie ließen nicht ab von dem Thema.

     Bei manchen lagert Erlebtes im Speicher, anderen muss man ihr Leben buchstäblich nacherzählen, so vieles haben sie vergessen. Und all die Zwischenformen des Erinnerns und Vergessens! Ich erinnere mich desto besser an Ereignisse, je länger sie her sind. Zwar weiß ich schon noch irgendwie, was vor einem Jahr war, aber je mehr Jahre ich zurückdenke, desto nebliger wird das Erinnerungsland. Bis zu einer gewissen Grenze jedenfalls. Was ungefähr zwanzig Jahre oder länger her ist, steht mir wieder klar vor Augen - wenn ich will. Es gibt Menschen mit dem sogenannten hyperthymestischen Syndrom. Diese bedauernswerten Geschöpfe sind dazu verurteilt, sich von ihrem episodischen Gedächtnis ständig Szenen von früher vorführen zu lassen, die banalsten, die schönsten, aber auch die schrecklichsten, und zu allem Überfluss werden sie gleichzeitig von ihren damaligen Gefühlen belästigt. Du sagst ihnen ein Datum und sie wissen, welche Temperatur an jenem Tag war, wie die Überschrift auf der Titelseite ihrer Tageszeitung lautete, und wie sie sich am Nachmittag jenes Tages fühlten. Zum Glück bin ich damit nicht geschlagen. Ich benötige den Willen, mich zu erinnern, am besten einen Menschen, der mir, sei es durch Fragen, auf die Sprünge hilft, sowie die Lust oder Phantasie, Damaliges noch einmal vor mir zu sehen.

     Und dann ist da noch etwas: je älter ich werde, desto häufiger kommt meine Vergangenheit zu mir zurück, nicht nur als Erinnerung, nein, Menschen und Situationen von damals begegnen mir ein zweites oder drittes Mal, real, im wirklichen Leben.

     Neulich bekam ich einen Anruf. Ich hörte ein Stimmchen und konnte es nicht zuordnen. Nach einigem Hin und Her stellte sich heraus, es war Ella. Wir hatten uns jahrelang aus den Augen verloren. Ich hatte oft an sie gedacht, weil ich mich an Freunde und Bekannte desto klarer erinnere, je länger unsere Begegnungen her sind. Als ich wusste, mit wem ich telefonierte, erinnerten wir uns an unser Kennenlernen vor dreißig Jahren, als wäre es erst gestern geschehen. Die Details waren scharf wie auf Fotos. Wir redeten genauso schnell wie früher, und wie ein Puzzle setzte sich jener Kosmos zusammen, der uns damals umhüllte und leitete. Ein paar Tage später trafen wir uns, feierten das Wiedersehen und machten unsere Sachen, und zwar solche, die wir früher ähnlich oder genauso gemacht hatten. Aber dazu später.

     Wir saßen also wiedermal bei Seemann zusammen und sie redeten auf mich ein, ich solle doch der Nachwelt ein paar dieser Stories hinterlassen, die wir erlebt hatten. Nach meinem Nein ließen sie es diesmal nicht gut sein, sondern redeten einfach weiter über die achtziger Jahre in dieser Wohnung. So unglaublich manche Stories auch klangen: keine der Geschichten, um die ich bisher einen Bogen gemacht hatte, war erfunden.

     Damals wohnte ich gleich um die Ecke in der Nürnberger Straße und war andauernd drüben bei Seemann. Mit achtziger Jahren meine ich die Zeit von 1977 bis 1985. Ella wohnte fünf Häuser neben mir. Im Nebenhaus logierten Schauspieler der Schaubühne, schräg gegenüber war meine Nachtbar, der Dschungel. Hugo Lahmer begegnete ich neulich in Wien, klein, mit Hut, und obwohl mächtig in die Breite gegangen, erkannte ich ihn sofort wieder an seiner zart täppischen Art, die ihn nicht verlassen hatte. Er lebte nun in Wien und arbeitete am Burgtheater, klar. Er erinnerte sich an den Dreiblatt, den wir damals auf dem Heimweg von einer Hörspielaufnahme geraucht hatten. Während wir in Wien vor dem Café Engländer standen, sah ich uns die Kantstraße in Berlin hinuntergehen und hörte Teile unseres Gesprächs, in dem er neben mir förmlich aufweichte. Er schüttete sein Herz aus. Die Einsamkeit, besonders nachts. Wie oft ich solche Geschichten hörte. Und meistens von Leuten, die andauernd mit Leuten zusammen waren. Ich erinnerte mich nun in wörtlicher Rede an sein Verlangen, die Nacht mit mir zu verbringen. Seine Rede bildete eine aufsteigende Kurve, die nach kurzem Aufenthalt auf hohem Plateau im gleichen Winkel abflachte, von stürmisch über dezent bis rücksichtsvoll. Ich kannte anstrengendere Szenen gleichen Inhalts. Mit Schwulen kam ich in solchen Situationen gut klar, weil sie eine Vorstellung vom Rückweg hatten. Hugo Lahmer erinnerte sich nicht mehr an unser Gespräch. In seiner Erinnerung war aus der Abweisung seines Verlangens ein heruntergerauchter Dreiblatt geworden. Irgendwo las ich einmal, Erinnerung begütige. Vielleicht sollten wir froh sein.

     Muss ich mir Sorgen um meinen Gesundheitszustand machen? Als meine Mutter an Demenz erkrankte, erinnerte sie sich schließlich nur noch an Erlebnisse aus Kindheit und früher Jugend. Nein, ich mache mir keine Sorgen um meinen Gesundheitszustand. Erst einmal schreibe ich diese Geschichte auf, denn nun ist es wirklich an der Zeit!

     Es bleibt dabei: Du bist der Wortmetz, sagte Seemann, du hast die Macht, bedenke das.

     Ich fragte ihn, welche Macht ich denn habe.

     Du kommst Leserinnen näher als es manchen ihrer Männer vergönnt ist. Sie gehen mit deinem Buch ins Bett und legen es unter ihr Kopfkissen, bevor sie einschlafen. Von solcher Intimität träumen ihre Ehemänner nicht einmal mehr.

     Seemann und Pablo redeten da oben in der großen Wohnung mit Blick aufs KaDeWe auf mich ein und ich merkte, wie ich langsam weich wurde. Manchmal wurde über meine ersten Bücher gesagt, sie seien zwar in der Ersten Person geschrieben, doch erfahre man wenig über den Autor. Seit dem Tag neulich, als wir oben in der Wohnung die alten Geschichten zurückkolorierten, schaue ich nicht nur mit anderen Augen auf mein Leben, meine Irrtümer und Glücksmomente. Ich habe Lust, den Schleier wegzureißen und zu erzählen, was wirklich war.

     Als Seemann mich Wortmetz nannte, fiel mir auf, dass wir vor ungefähr dreißig Jahren schon einmal so geredet hatten, zum Teil mit identischen Formulierungen. Pablo nannte mich daraufhin Schnipsel. Beide Bezeichnungen waren mir unangenehm. Jetzt kamen mir unsere Sätze nicht nur bekannt vor. Stellenweise sah ich vorher, was wer gleich sagen würde. Wort für Wort wiederholten wir ein Gespräch, das es vor vielen Jahren schon einmal gegeben hatte.

     Als ich diese Erfahrung mit Seemann und Pablo zum ersten Mal gemacht hatte, es war am gleichen Ort, in Seemanns geräumiger Wohnung, verließ ich die beiden und drehte draußen eine lange Runde um die Blocks. Das Gefühl, eben eine eine werkgetreue Wiederaufführung oder sogar eine Aufzeichnung von früher erlebt zu haben, hatte mich in Unruhe versetzt. Ich fragte mich, was denn nun wäre, wenn ich vom originalen Echtzeitleben in das einer Aufzeichnung meines früheren Lebens gewechselt wäre. Um auszutesten, ob es so war und ich vielleicht nur als Kopie meiner selbst unterwegs war, tat ich Dinge, die ich noch nie getan hatte. Ich nahm eine Apfelsine aus den Auslagen eines Obstgeschäfts, schälte sie im Weitergehen, ließ die Schalen aufs Trottoir fallen und aß sie sofort. Ich blieb sieben Grünphasen lang an einer belebten Fußgängerampel stehen. Ich verschwand in einem Hauseingang und machte im Garten Beckenbodenübungen, etwas, das ich früher gar nicht kannte.

    Alles deutete also darauf hin, dass ich im Echtzeitmodus lebte. Aber was, überlegte ich, wenn ich mich an diese Tätigkeiten, sollte ich sie jüngst doch schon einmal getan haben, jetzt nicht mehr erinnern konnte und dazu erst in ein paar Jahrzehnten in der Lage sein würde?

    Ich war verwirrt. Einerseits. Und einer Entdeckung auf der Spur. Andererseits.

4. März 2023

 

 

Kein Thema

Am Tag, als Seemann zum ersten Mal "mein Freund" zu mir sagte, spielte er den neuesten heißen Metal-Scheiß vor, dem ich schon deswegen lustlos zuhörte, weil See mich anstarrte und erwartete, dass ich auf die Musik abfuhr. Erst beim sechsten oder siebten Song und nachdem er mich nicht mehr anglotzte, war ich auf Linie.

     Hammer.

     Du stehst drauf, ich wusste es.

     Ist überhaupt nicht meine Richtung.

     Erzähl nicht sowas.

     Mir gefällt nur der Text.

Seemanns Tüten waren so locker gedreht, dass beim Weitergeben Glut herausfiel, dachte ich in dem Moment, als ich sah, dass zwei Krümel auf meiner neuen Hose verglommen. See grinste, fragte, warum ich in solch beschissenen Hosen rumlaufen würde und drehte das Metal-Brett lauter. Ich erzählte irgendwas von Stil, er hörte es nicht, ich auch nicht. Er war klein und bewegte sich nur, wenn es nötig war. Wenn er mal vors Haus ging, dann im weißen Overall. Er fuhr Taxe, damit er krankenversichert war. Seinem Chef war die Festanstellung wichtiger als der Ertrag. Für jeden Angestellten gab es eine Subvention. Westberlin. Jeder hatte was davon.

     Wir fuhren ein bisschen durch Schöneberg und zogen eine Autofahrtüte durch, also wir cruisten und hörten Steely-Dan-Nummern, und Leute, denen wir zu langsam waren, gaben verschiedene Huptöne dazu. Der Stress der anderen war nicht unserer, wir waren in der eigenen Wolke. Bisher hatte ich während Sees Kurzbesuchen bei Knolle immer draußen gewartet.

     Komm ruhig mit rein, mein Freund, sagte er.

     Auf dem zweiten Hof klopfte er gegen eine Tür, die sich sofort öffnete und Knolles Rücken zeigte. Er brüllte ins Telefon. Er war ein bulliger Typ und sein Gesicht war staubgrau. In seiner Werkstatt lagen Schrott, Müll und undefinierbares Zeug herum, genau wie er von einer Mischung aus Staub und Sägemehl bedeckt. Knolle knallte den Hörer auf, schaute mich aus Knopfaugen an, gab mir seine Hand und zerquetschte meine fast. See nahm die ausglimmende Tüte vom Aschenbecherrand und blies ein paar Ringe.

     Kunden!, sagte er, zu vornehm, aus der Hüfte zu kommen. Ich höre, wie er um Zuspruch bettelt, aber er will Zuspruch mit Gewalt. Musste erstmal drauf kommen. Also beschimpfe ich ihn. Zack: Auftrag im Kasten.

     Leute kommen an, weil sie was wollen, und sind sie da, haben sie es vergessen.

     Der Kaufmoment nebelt ins Gehirn hinein.

     Wir verstehen uns.

     Das ist mir neu.

     Knolle fand auf Schrottplätzen Präzisionsmetalle mit minimalen Ungenauigkeiten, die für die Industrieproduktion unbrauchbar waren. Er bezahlte die eingesammelten Zahnräder und Kugellager nach Gewicht. Oder er suchte in Wäldern nach ausdrucksstarkem Altholz. In einer Ecke der Metallschrott, in der anderen das Altholz. Zentrum der Werkstatt war eine quadratische Metallplatte mit angeschraubten Fräsen und Schleifmaschinen. Eine Wand voller Werkzeuge in akkurater Reihung.

     Dreh mal einen.

     Seemann legte ein dickes Stück vor mich hin. Ich drehte einen, rauchte ihn an und gab ihn Knolle.

     Wo warst du die ganze Zeit? Dachte schon, wär was passiert.

     Ging alles ziemlich schnell. Glaubst du nicht. Der Mann von Bibi Herr. Absolut lockerer Typ. Wohnt eine Etage über München, alles vom Feinsten, und fragt mich, ob ich was für ihn hätte. Kein Thema, sag ich, neue Räume, neues Licht, dafür bin ich da. Haben wir erstmal einen durchgezogen. Ist auch nur ein Freak.

     Gib mal weiter, sagte Seemann.

     Knolle behielt die Tüte in der Hand.

     Auf der Arbeitsplatte Innenringe eines Kugellagers, poliert, Teile eines ausgehöhlten Weißbuchenstamms, Fassungen für Leuchten. Knolle schob ein paar Teile ineinander, stellte sie zu etwas wie einer Skulptur auf und redete weiter, ohne die Tüte von den Lippen zu nehmen.

     Am Ende siehst du nur das Weißbuchenteil, logisch, und aus dem Hohlraum wachsen Strahlen durch die Löcher des Kugellagerrings, sieben feine Lichtkegel, logisch mit Dimmer, sind Nachttischlampen.

     Bibi Herrs Nachttischlampen?

     Bibi Herrs Nachttischlampen.

     Danach war die Tüte abgebrannt.

     Knolle griff sich einen uralten Vorwerk-Staubsauger, schraubte das Gewinde auf, zog aus dem Staubbeutel eine Platte hervor und entpackte sie sorgsam.

     Libanese, wie immer. 

     Zero?

     Zero Zero, was denkst du!

     See orderte eine halbe Platte, ich ein Stück von der Größe meines Daumens. See sagte, er bezahle beim nächstes Mal.

     Kein Thema, sagte Knolle.

     Ich drehte noch einen und rauchte ihn mit Seemann zu drei Vierteln weg, den Rest gaben wir Knolle. Der brachte uns zur Tür.

     War mir eine Ehre. Kommt mal wieder vorbei.

 

Das fällt mir ein, weil Bibi Herr und ihr Sohn gestern in einer Talkshow saßen. Seit ungefähr einem Jahrhundert war Bibi Herr eine bekannte Schauspielerin. Sie plauderte von sich, Mann und Söhnen, alle im Erfolg, die Story vom Filmstar, dem Immobilienschieber und dem Rennwagendesigner. Bibi Herr sah unglaublich frisch aus. Sie war die Mutter dieser ältlichen Tucke neben ihr, die sich Designer nannte? Sie hatte sich früh genug minimale Korrekturen gegönnt, sie wusste, wie es ging.

     Im neuen Film gab sie eine Siebzigjährige. Es sei wohl nicht weniger schwer, sie zu einer Frau ihres Alters hin zu schminken, als sie zwanzig Jahre jünger aussehen zu lassen, schleimte der Moderator sie an und merkte nicht, wie schlecht er schleimte. Bibi Herr wäre auch als deutlich Jüngere durchgegangen. War sie nicht schon siebzig? Keine Zahlen. Jedenfalls musste ich abwechselnd an Knolle, an Betty und an Bibi Herrs Schlafzimmer denken, deren Ehebett von zwei Lampen aus Weißbuche mit Kugellagern flankiert waren, die sieben feine Lichtkegel in die Luft schossen.

 

Ein halbes Jahr nach unserem Kennenlernen hatte Knolle zwei Dutzend Mal den Vorwerk-Staubsauger für mich aufgeschraubt. Jetzt wollte ich endlich meine Schulden begleichen.

     Kein Thema, sagte er, komm vorbei.

     Das war an dem Tag, als Betty nach ihrer Kyoto-Reise bei mir auftauchte. Sie malte und schrieb Gedichte. Sie sammelte Literaturpreise wie andere Frauen Schuhe, wurde ständig zu gut honorierten Lesungen eingeladen, oder sie wohnte Aufenthaltsstipendien in aller Welt ab, zuletzt in Kyoto. Sie war 1.85 groß, unglaublich blond und hatte Gelenke aus Gummi. Wir teilten gewisse sexuelle Interessen. Wenn sie von Reisen kam, rief sie mich sofort an, um ihren Reisebericht loszuwerden. Für gewöhnlich zog sich ihr Referat sehr lange hin, denn ich fragte gern nach Details, Details interessierten mich besonders.

     Du bist der beste Zuhörer, den ich kenne, sagte sie, du glaubst nicht, wie mich das anmacht.

     Ich wusste es.

     Sie war schon eine Weile bei mir, wir rauchten die dritte Tüte. Betty erzählte von komplizierten japanischen Jungs, die sie begehrte. Meine Nachfragen nach Details erregten sie. Ihre Antworten erregten mich. Sie räkelte ihren sehnigen Körper hin und her, ich interpretierte das Zeichen und räumte Zeug vom Schreibtisch.

     Danach fiel mir ein, dass ich Knolle versprochen hatte, an diesem Nachmittag meine Schulden zu begleichen. Ich schaute andauernd zur Uhr auf dem Fensterbrett.

     Ich muss dir noch die Sache mit Haruto erzählen.

     Der, der Röcke trug?

     Und die mit Sakura, ein süßes Ding.

     Auf deiner Karte stand was von ihr.

     Vielleicht bin ich ja lesbisch.

     Ich rief Knolle an und erzählte ihm irgendwas von Betty, die bei mir sei.

     Kein Thema, sagte er, bring sie mit.

     Dauert noch ein bisschen.

     Kein Thema.

     Alles, was auf meinem Schreibtisch lag, war sie.

     Mit Sakura saß ich in einem Café über dem Kamogawa, das Wasser glitzerte, wir nahmen uns in den Arm und blieben so sitzen, und jedesmal, wenn ich meine Finger bewegte, lachte sie und brachte meine Finger wieder in ihre Ausgangsstellung, so ging das eine Stunde lang, und ich sage dir, ich habe meine Hände kein Stück vorwärtsbewegen können. Am Ende waren sie immer noch da, wo sie nach unserer Umarmung gelandet waren. Du glaubst nicht, wie mich das angemacht hat!

     Komm doch einfach mit, sagte ich zu Betty, als wir wieder mal fertig waren und ich zwei Zigaretten anzündete, ich zeige dir die Arbeitsplatte von Knolle.

     Jetzt?

     In Geldsachen versteht Knolle wenig Spaß. Danach gehen wir essen, schön mit Vorglühen.

     Ich will tafeln mit dir.

     Du kennst mich.

     Auf dem Weg zu Knolle erzählte sie von ihrem Versuch, mit Haruto, einem japanischen Maler, eine Nummer auf die Arbeitsplatte ihres Stipendatinnenzimmers zu legen, bis sie kapierte, dass er asexuell war.

     Danach bin ich in ein Pornokino gegangen, aber aus dem Tag wurde nichts mehr.

     Als wir bei Knolle ankamen, war er aufgeregt, irgendwas stimmte nicht. Sein Organ war kleinlaut. Er redete mit dem Telefonhörer und mit uns gleichzeitig. Etwas hatte die staubgraue Schicht von seinem Gesicht gewischt.

     Ich muss für eine halbe Stunde weg, eine Kuh vom Eis holen.

     Ich hörte, er redete mit seiner Frau, einer fröhlichen Zwei-Zentner-Erscheinung.

     Ja, meine Blüte, ich gehe jetzt los.

     Er zog ein Jackett über, das zu klein war und kämmte Staub aus den Haaren.

     Und wir warten hier auf dich?

     Kein Thema. Ich vertraue euch. Macht es euch gemütlich.

     Weg war er. Hatte sein Grinsen etwas zu bedeuten?

     Gemütlich?, fragte Betty.

     Wir schauten auf Knolles verstaubte Arbeitsplatte, auf Weißbuche und Kugellager, die Buche schon geschliffen, das Kugellager poliert. Der Staubsauger lag in zwei Teilen auf dem Boden. Der Staubbeutel fehlte. Betty drehte einen. Ich zog zwei Bier aus dem Kühlschrank.

 

Bibi Herr, als ich jung war, wollte ich Sie heiraten!, sagte der Moderator, aber es hat leider nicht geklappt.

     Haben Sie darunter gelitten?

     Ziemlich lange, wenn ich ehrlich bin.

     Als ich jung war, wollte ich Mick Jagger heiraten. Das hat auch nicht geklappt.

     Wie sähe die Welt wohl aus, wenn wir die geheiratet hätten, in die wir so richtig verknallt waren, als wir so richtig jung waren?

     Was meinen Sie?

     Bibi Herr, was würden Sie sagen, wenn ich sagen würde, dass wir uns schon mal begegnet sind?

     Wenn Sie sagen würden, wir seien uns schonmal begegnet, würde ich Sie fragen, wo wir uns schonmal begegnet sein sollen.

     Nun, ich würde sagen, dass ich hier gar nicht ins Detail gehen wolle.

     Wie viele Leute schauen uns im Moment zu?

     Die Zahlen sehe ich erst morgen früh.

     Der Moderator schwitzte. Er versuchte, die Ausfahrt aus dem Thema zu erwischen. Bibi Herr stand ihm genussvoll im Weg.

     Ich glaube, Zuschauer lieben Details.

     Dann kam ein blöder Einspieler, und ich zappte weiter durch den Freitagabend. Inzwischen kannte ich Bilder ihres Schlafzimmers, weil Knolle die Plazierung seiner Objekte rechts und links des Bibi-Herr-Ehebetts herumgezeigt hatte. Inzwischen habe ich Betty eine Weile nicht mehr gesehen, vermutlich ist sie irgendwo anders auf dem Erdball und ruft mich an, wenn sie zurück ist.

 

An jenem Tag saß sie auf Knolles Arbeitsplatte zwischen zwei Rillenkugellagern und strich ihre Fingerspitzen über die Dichtscheiben und ihre Öffnungen.

     Was ist, wenn er früher zurückkommt?

     Was soll sein?

     Stimmt auch wieder. Als ich in Kyoto Haruto Modell stand, interessierte der sich nur für Details. Während der ersten Session malte er meine Achseln, beim zweiten Mal meine großen Zehen, find ich beides nicht so prickelnd. Dann war er total begeistert von meinen vorstehenden Hüftknochen. Ich sollte mich auf die Seite legen, so ungefähr.

     Sie streckte ein Bein aus, winkelte das andere an und zeigte ihren Hüftknochen.

     Dann fuhr er auf diese Kuhle hier ab und begann sie zu bemalen. Das machte mich total scharf. Aber für ihn war das nur die Kuhle eines Körpers. Ich wurde fast irre.

     Und dann?

     Ich glaube, er hat mir gern zugeschaut.

     Als wir fertig waren, verschmierte sie unsere Nässe auf der Buche.

 

1. Februar 2023

 

 

 

Der Dealer und die Hure

Meine Besuche bei ihm liefen immer gleich ab. Ich zog die Schuhe aus und setzte mich auf die Matratze am Boden. Wir hörten Musik und zogen an Tüten. Zum Schluss fischte er eine dunkelbraune Platte aus dem Brotkasten neben der Matratze, schnitt ein Stück ab, hängte es an die Waage und sagte, heute sei ich besonders gut bedient. Ich bedankte mich und zischte ab. So ging das Jahr um Jahr.

     Damals wohnte er mit Ufo zusammen, einem U-Bahn-Zugabfertiger. Sie teilten sich eine Vier-Zimmer-Wohnung in der City. Eines Tages zog Seemann bei ihnen ein; manchmal hatten mein Dealer und er Streit, und nachdem die beiden sich einmal hart geprügelt hatten, begann eine dicke Freundschaft. Ein paar Jahre später zog mein Dealer da aus, der Grund war eine Blondine, die schon monatelang auf seiner alten Matratze gelegen hatte, ganz als gehörte sie zu ihr. Hasch bekam ich jetzt in der neuen Wohnung der beiden, die in einem anderen Bezirk und seltsamerweise gleich neben meinem Kindheitshaus lag.

     Die Schuhe auszuziehen war weiterhin Pflicht. Nur saß ich jetzt in einem Ledersessel, der gut in die Wohnzimmer unserer Eltern gepasst hätte, und ein Fernseher lief. Der Aufstieg meines Dealers von der Bodenmatratze zum Bettgestell war verbunden mit einem kürzeren Haarschnitt, und seine Frau hatte aufgehört als Hure zu arbeiten. Ihr wuchs das Blonde aus den Haaren, und sie war nun Hurenberaterin. Ansonsten blieb alles beim Alten. Wir rauchten eine Tüte, er ging zum Brotkasten, schnitt ein Stück ab, hängte es an eine Waage, und am Ende sagte er, heute sei ich besonders gut bedient.

 

7. Januar 2023

 

 

Wieder-Holung

Früher rauchte ich das Zeug. Heute esse ich es. Einnahme um 11 Uhr. Wie lächerlich fand ich ähnlich buchhalterische Einträge bei Benjamin! Nach dem Mittagsmenu Siesta, so ist der Plan. Aber liegend gleite ich in eine sehr andere Welt. Der Radiosprecher ist so langsam, dass ich mich in jeder Silbe umschaue und manches Wort bewohne. Kleinste Gedanken werden zu Gebäuden. Mit jedem neuen zerbröselt, verschwindet jenes, das kurz zuvor in Pracht erschienen war. Die Bildschwenks wechseln zügig. Sie laufen ab. Jedes Festhalten bedeutete den Ausstieg aus dem flow und ein Ende dieser eigenzeitlichen Welt.

 

Nach dem Hören hinter den Augen die große Schau. Ich träume bei wachem Bewusstsein? Am Anfang Formen und Muster. Manchmal schließt man die Augen und sieht, nach einer Erschöpfung oder nach zu viel Kaffee, Bewegliches. So auch hier. Nur, bei Formen bleibt es nicht. Aus ihnen werden Figuren und Bilder; aus Standbildern werden bewegte, sich in andere Bilder verwandelnde. In welche Richtung die Schau sich entwickelt, liegt in meiner Macht, ohne dass ich Macht über den Fortgang hätte. Als würden die Bilder nach kurzer Zeit schlecht, verblassen sie. Ich befinde mich ständig vor Gabelungen und wähle einen der angebotenen Wege. Am Ende jedes mal langen, mal kurzen Weges, die Rede ist von Sekunden, erscheint die nächste Gabelung. Ich sehe Filmsequenzen. Ich schlafe nicht. Ich kann nicht schlafen. Wach liegend, träume ich? Nach knapp zwei Stunden Liegen werde ich etwas geschlafen haben, ohne es gespürt zu haben.

 

Ähnliche Geschichten haben wir uns mit achtzehn, neunzehn zu erzählen versucht und sind ebenso an der Sprache des Wachseins gescheitert wie ich heute, da alle Einzelbilder und Denkgebäude mit dem Auftauchen des nächsten Ereignisses verschwinden. Es gibt keine Erinnerung, die jeweilige Gegenwart ist zu stark. Der halbwache Zustand dabei erinnert an einen Schlaftraum, über den man manchmal sagt, die Wahl gehabt zu haben, wie er weiterging. Ich bin Zuschauer und Regisseur zugleich oder abwechselnd. Es gibt keine Grenzen, keinen Anfang und kein Ende. Nur diesen Zustand der Gedanken- und Bilderflüsse. Was fest erscheint, löst sich auf.

21. November 2022

 

 

Can in Soest

1970 zeichnet der WDR für die Sendereihe "Mixed Media aus Soest" ein Konzert der Veranstaltungsreihe "Karussell für die Jugend" auf. Hier hat die deutsche Band Can ihren ersten TV-Auftritt. Die Bühne ist klein. Auf einer Leinwand darüber Bilder der Aufzeichnung in Echtzeit, gefilmt von vier unübersehbaren Kameras, auch Zuschauende sind im Bild: Schüler, Lehrlinge, Berufsanfänger. Sie sitzen auf dem Boden oder stehen. Wildlederschuhe, Haare vor der Stirn, enge Hosen und enge Pullover. Die Kamera der Totale hält in ungeschmeidigen Zoom-Bewegungen drauf. Es sind Jungs, die zuerst tanzen, nach zehn Minuten werden immer mehr Köpfe geschüttelt. Die Mehrheit bleibt reglos und mustert die Musiker. Der Sänger scheint seine Texte zu erleiden.

 

Schnitt vor dem zweiten der acht Stücke, die Can spielen. Zwei Jungs, etwas älter, mit langen Koteletten und Sakkos, ein Kleidungsstück, das außer ihnen nur die Kameraleute tragen, sitzen auf der Bühnenkante und schauen zum Publikum, drehen die Köpfe allerdings zur Leinwand hinter sich, prüfen ihre Erscheinung dort, oder drehen sich zu den Musikern um. Hinter der Bühne zwei Jungs in Rollkragenpullovern mit verschränkten Armen. Oft zeigen die Kameramänner ein Mädchen mit einer Blumenbrosche im Haar. Ein anderes schickt Seifenblasen in die Menge. Tanzbewegungen werden heftiger, die Skepsis mancher Gesichter bleibt konstant. Geschlossene, verschlossene Münder. Harte Jungsgesichter. Ein paar Paare. Freundlicher Applaus, nicht von allen.

 

In Minute 23 den Typen mit der Pfeife im Mund entdeckt, der älter aussieht als er ist und es so will. Stoischer Beobachter, Checker. Nach einer halben Stunde sind nur noch die Harten hart. Frühes Multitasking einer Zuhörerin: Headbangen und dabei ein Buch lesen. Minute 41: Das Seifenblasenmädchen zerbeißt ein Piece und tut es in die Purpfeife. Sie zündet die Pfeife an, in Großaufnahme. Nach einer knappen Stunde verliert die Regie das Interesse am Publikum und der Regisseur an der Regiearbeit. Zwei Kameras halten auf die Band, fertig. Auf der Leinwand ist nun zu lesen: "Rund 700 Millionen Analphabeten 1970. Fast jeder 3. Erwachsene kann nicht lesen und schreiben."

 

Eineinhalb Stunden lang Blicke auf Menschen, die ein paar Jahre nach Kriegsende geboren wurden, Blicke in Gesichter einer anderen Zeit. Ihre Härte wäre heute schwer zu finden. Heutige wurden vergleichsweise in einem Spaßgenerator gezeugt, und mit Beginn der Schulpflicht schlossen sie die Lehre im Thema Medien ab. Die Ungeprügelten. 1970 in Soest reagierte niemand mit einer kleinsten Bewegung auf die frontal filmenden Kameras. Dafür standen keine Zeichen zur Verfügung. Eineinhalb Stunden lang Blicke in Gesichter, die mich umgaben, als ich ebenso alt war, und die beim Zuschauen vor dem inneren Auge erscheinen, einschließlich damaliger Redewendungen, Lehrergesichter, Automarken und Ansichten des leeren öffentlichen Raums.

 25. Oktober 2022

 

 

Kitesurfen in El Médano

Ein Kurzfeature von Bodo Morshäuser (Autorenproduktion)

Deutschlandfunk, 25. September 2022