Tageslicht 19

Rotes Kanapee

Gestern streifte ich auf dem Nachhauseweg durch eine dieser Trödler-Straßen und blieb vor Schaufenstern stehen. Sie sagte Hallo, du bist es doch, stellte sich neben mich und schaute wie ich in die Geschäftsauslage und sofort fiel mir ihr Name ein, Jacki. Der Zufall, die Jahre, was man so sagt nach Jahrzehnten. Sie erzählte von Mann und Kindern, ich von der leeren Wohnung, aus der ich kam. Damals bediente sie, ich war DJ. Ich wusste noch, wie sie roch. in der engen Kammer hinter der Tanzfläche rauchten wir öfter einen, bevor der Laden voll wurde. Damals kam ein neuer Erdbeerduft auf. Der Mann sei weg, die Tochter aus dem Haus, ihr gehe es gut. In der Kammer erzählte sie von aufdringlichen Kunden, ich von der Frau, die mir in den Schritt gefasst hatte. Im Schaufenster stand ein bordeauxrotes Kanapee. Gefällt dir das? Sie war genauso dünn und zierlich wie damals. Nach dem Rauchen bewegte sie sich so gekonnt, dass es mich fertigmachte. Ich sah ihr an, wir dachten an das Gleiche, als ich sagte, das Kanapee gefalle mir. Niemand hörte uns, die Kammer war unter den Lautsprechern. Zum ersten Mal im Leben fühle sie sich frei. Wir tauschten unsere Karten. Früher hätten wir das nicht getan. Die Frage, ob wir einen rauchen, war unser Signal. Ich legte die Maxi-Version von Mike Anthony's "Why Can't We Live Together" auf. Jacki arbeitete freitags und sonntags.

6. Februar 2025

 

 

"Immer muss man alles selber machen"

Die Gehwege in ihrer Wohnstraße sind alt und bestehen aus einer Reihe schwerer Charlottenburger Granit-Krustenplatten, bis zum Haus- und Straßenrand umrahmt von kleinen Sandsteinen, das typische Berliner Muster, auf breiteren Bürgersteigen mit zwei Plattenreihen. Die Breite einer Krustenplatte gibt Platz für einen Menschen. Hier muss einer von zwei sich Begegnenden auf die kleinen, uneben gehämmerten Sandsteine ausweichen. Manche tun das einfach, andere beharren auf ihrem Weg, Unentschiedene haben ein Problem, weil sie es zu einem Problem erklären. Sie möchten weder die selbstverständlich Ausweichenden sein noch als rücksichtslos erscheinen. Wer die Frage Ausweichen oder nicht als Statusfrage versteht, geht täglich auf dieselbe Fragestellung zu und lässt sich von der Antwort eher überraschen als sie selbst herbeizuführen. Die Frage Ausweichen oder nicht war für sie unerschöpfliches Knobelgebiet. Sie verstrickte sich mit Unbekannten in imaginierte Raumkämpfe, als müsse sie bei jedem Gang durch die Stadt Terrain erobern, das ihr wann auch immer genommen wurde. Manchmal lese ich einzelne Passagen in zwei Heften, die ich aus ihren Heftregalmetern gezogen habe. Eines stammt aus der Zeit, als sie die Geschäfte der das Haus sanierenden Bewohner führte, Aufträge erteilte, ausgeführte Arbeiten abnahm und Plenen protokollierte, einer aktiven Zeit, sie hatte genug zu tun, um überflüssige Konflikte zu meiden. Vermutlich schrieb sie die Einträge abends, oft schildert sie den Ablauf eines Tages. Nach dem Lesen verschiedener Passagen sehe ich ein Muster. Sie geht morgens aus dem Haus, um Kleinigkeiten zu erledigen, sie erwähnt ihre Stimmung in diesem Moment. Manchmal soll die Welt umarmt sein, manchmal verdammt. Dann geschieht ein quer zu ihr stehendes Ereignis, jemand weicht partout nicht aus, jemand braust mit hohem Tempo durch die Straße, und sie verliert ihr Gleichgewicht und kann oder will mit dem frischen Tag nicht mehr viel anfangen, die weltumarmungsbereite Stimmung ist nicht nur unterbrochen, sie ist geradezu vernichtet worden durch irgendjemand Fremdes. Ebenso sind gegenteilige Abläufe notiert. Gute Stimmung am Morgen, freundliche Gesichter unterwegs, ein vergnügliches Wiedersehen mit einem alten Freund, alles ist gut. Tag für Tag setzt sie sich dem Gemenge von eigener Stimmung und Interpretation fremden Verhaltens als Grundlage ihrer Verfasstheit aus. Als erwarte sie, dass Innen und Außen ineins gehen; wenn nicht: Verstimmung. Das andere Heft ist eines ihrer letzten. Mit dem ersten Corona-Lockdown ließ sie, nicht ungern, die Taxe stehen. Die beste Zeit in diesem Job war vorüber, er machte ihr kaum noch Spaß. Eine vor Jahren scheinbar gut verlaufene Operation zeigte Nachwirkungen, die Laborwerte wurden schlechter. Sie nahm Medikamente und ließ die Werte regelmäßig kontrollieren. Haarausfall machte ihr Sorgen. Sie schaffte Mützen an, schneiderte einige selbst. Manches im Haushalt wuchs ihr über den Kopf. Was sollte mit dem alten Zweitwagen geschehen, der vor sich hin rottete? Was mit dem verwitternden, vor wenigen Jahren neu gekauften Fahrrad? Wo anfangen, um im Keller einen Überblick zu bekommen? Wenn wir uns trafen, redete sie darüber. Ich machte Vorschläge und bot Hilfe an. Nie kam sie darauf zurück. In ihrer Küche stehend sehe ich, die Macht der Dinge kam ihr bedrohlich nah. Die Klage darüber ist an die Küchentür geheftet: "Immer muss man alles selber machen."

 19. Juni 2024

 

 

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