Tageslicht 10

Jacob T. Swinney: Erste und letzte Einstellungen von Filmen II

Jacob T. Swinney: Erste und letzte Einstellungen von Filmen I

Jacob T. Swinney: 100 Jahre Film in 100 Filmbildern

Roberto

Immer wenn Pflegekater Roberto hier wohnt, verharrt er einmal täglich vor einer kleinen Öffnung zu einem Hohlraum unter den Küchenschränken. Als er ganz klein war und Robertolino hieß, kroch er in dieses Loch und verschwand für eine Weile. Jetzt passt er nicht mehr in die Öffnung. Doch jedesmal, wenn er hier wohnt, geht er ganz nah ans Loch heran, verharrt davor und schaut ins Schwarze. Er versucht nicht mehr, sich hineinzuquetschen. Spürt er, dass er früher dort drin war? Weiß er es? Verharrt er vor der Öffnung, weil er diesem Früher nah sein will? Wenn ich ihn da sehe, kommt er mir vor wie ein Mensch, der Momenten seiner Kindheit auf die Schliche kommen will, die ihn zwar prägten, an die er sich aber nicht erinnern kann. Manchmal hat er das Gefühl, nah dran zu sein an einer verlorenen Erinnerung. Nie wird er es schaffen wie einst, als Kindheit einfach da war. Roberto weiß, da ist oder war etwas, er weiß nicht, was. Er scheint zu warten, bis ihm etwas entgegenkommt aus der Öffnung, die für ihn verschlossen bleibt.

 26. April 2016

 

 

Torii vor dem Itsukushima-Schrein auf der Insel Miyajima

Vor dem Itsukushima-Schrein auf Miyajima

Nachkrieg Vorkrieg 3: Jugend danach

Nein sagen, nein zu kaputten Vorbildtuern, nein zu Missgunstmutterschiffen, Jähzornrudeln und Falschlebensberatern; die Antwort auf Vorgaben, Hinterhalte, Fallen und Gruben, sie lautet nein. Was gelten soll, das gilt noch lange nicht. Nein heißt Ja für etwas anderes, das man noch nie gesehen hat. Das andere ist daran zu erkennen, dass es nicht verstanden wird, dass es verbannt werden soll, aber nicht verbannt werden kann, weil die Kaputten vor ihm warnen, es also interessant machen. Das andere ist das Verbotene, aber auch das unerhörte Lied, der nicht gedrehte Film, das Buch, das geschrieben wird. Ich will verstanden werden, und will es nicht, will etwas sagen, und will es nicht, will widersprechen und will verweigern. Das System lernt gern, ich komme ihm gerade recht, auf mich hat es gewartet, es lernt und lernt und lernt, denn es muss überleben. Es wirft den Rechner an, um die Lösung zu erstellen. Das System lässt sich nicht schwächen, weder durch Gegenhalten noch durch Verweigerung. Ich bin nichts. Ich bin nichts weiter als eine Möglichkeit. Genau wie die Kaputten ahne ich nicht, dass das System sich ändern will und kann und wird. Dauert mir aber viel zu lange, wie es mir viel zu lange dauert, bis die Zukunft beginnt, die Zukunft beginnt ja nie.

 

Vorbildtuern und Falschlebensberatern erfolgreich nicht gefolgt. Andere Sachen anders gemacht. Nicht wiederholt, sondern vermieden. Rat gefunden im Nein. Nein heißt Ja für etwas anderes, was ist das andere, es muss das Gegenteil sein. Also keine festen Verhältnisse irgendwo, alles offen und im Fluss, ohne Anker und festes Seil, mal sehen, was kommt, unverbindlich und auf Probe probiert und gekostet, zur Seite gewichen, aus dem Bild gekippt und aufgeschlagen anderswo als der Neue, der nichts festmachen, sondern offenlassen will, genau wie die, die ihn umgeben, mit denen er sich umgibt, Kometen ohne Bahn, Halme im Wasser, den Strömen ergeben.

 

Du warst nie allein. Was nie Zukunft wurde, ist auf einmal Vergangenheit. Es muss eine Menge Zeit vergangen sein, unbemerkt. Die Reihen sind gelichtet, die Temperatur hat nachgelassen, Wahrheitsfeuer sind abgebrannt und erloschen. Sie glimmen noch auf in privaten Momenten von alter Klasse und besonders unnachgiebiger Enge im Kopf. Aufgeflammtes, das am nächsten Tag verwünscht wird. Du denkst dies, sagst aber das und tust jenes, einem wie dir glaubst du nicht. Man hört nichts mehr von dir, ja du wirst stumm und bist allein. Die Reihen, damals geschlossen, sind zerrissen, hier und da Einzelne, Kometen im All, Halme auf Wellen, die irgendwie zueinander gehörten und sich irgendwo noch erkennen, woran denn nur, vielleicht an der Frisur. Das große Nein ist weggesperrt. Die Vorbildtuer sind gestorben. Anstatt ordentlich verschwunden zu sein, leben sie Gespenstern gleich in dir und deinesgleichen weiter. Das System lächelt von Breitwänden herab. Alle haben gute Laune. Du hast ein Problem. Du bist allein und gehst jetzt ein. Es knallt. Du kommst um oder nicht. Der Komet scheint einer Bahn gefolgt zu sein, die du nicht kanntest. Du merkst es, weil du aus ihr herausgeschnipst worden bist, in freien Fall, ohne Abschied, Anker, ohne Seil.

 

Ich bin nicht mehr allein. Leben, Läufe, Geschichte: dieser Humor ist speziell. Der Witz, das sind wir. Mit Urzeitenfreude lerne ich neu zu sprechen. Ich kenne mich nicht. Ich erkenne einen wieder, den ich aus den Augen verloren hatte. Ich sage Ja.

10. Februar 2016

 

 

Wer Debatten verhindert, dem fallen sie auf die Füße

Angela Merkel ist bekannt für drei markige Formulierungen: 1. Irgendetwas sei alternativlos; 2. Scheitert der Euro, dann scheitert Europa; 3. Wir schaffen das. Das sind Appelle. Damit sollen Diskussionen beendet werden. Wahrscheinlich hat sie das Gegenteil erreicht. Ihre extreme Flüchtlingspolitik führt zu einer Verschärfung von Widersprüchen, die am liebsten unter der Decke gehalten wurden. Merkels Satz vom Euro war eine Reaktion auf Grexit-Pläne, aber auch auf die AfD, die seit ihrem Bestehen davon profitiert, dass sie faktisch mit einem Diskutierverbot belegt ist. Ist sie doch mal eingeladen, werden aus Diskussionsrunden Tribunale.

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28. Januar 2016

 

 

Kleine Wörterkunde: Gutmensch

Nachdem es umfassend verdreht und zum Kampfbegriff für und auch gegen Leute geworden ist, die nie gemeint waren: Lesen Sie hier, wie es entstanden ist und wer und was damit einmal bezeichnet wurde.

13. Januar 2016

 

 

Nachkrieg Vorkrieg 2: Jugend lernt

Kreuzberg ist ein aufgepultes Einschussloch, hier wohnt Krieg, verloren vereinzelt verbittert, und niemand findet den Farbfernsehknopf. Man wohnt da wegen der Preise und nimmt die Depression inkauf. Jede Nacht Alarm. Kriegsschreie stechen durch die Stockwerke. Jeden Morgen fahren Leichenwagen vor. Lassen die Schreie nach, liegt das Geheul der Kriegsfrauen über Kreuzberg. Die Nächte der alten Frauen sind ihr Tag nach dem Tag, sie schlafen nie. Nachts träumen sie von Wölfen und Sirenen. Ich sehe sie, bevor das dunkelgraue Kreuzberg schwarz wird und ich mir die letzten Brötchen nehme. Dann tragen die alten Frauen ihren Likör nach Hause und hoffen auf Schlaf. Nie mehr bekommen sie Schlaf. In sie war früher direkt hineingeschossen worden. Sie hören und sehen immer noch alles, was gewesen ist, Wölfe, Sirenen, Stiefel. Das höre ich in den Nächten, da ich unter einer Lampe in der absolut unstillen, weil kriegsgeheulstillen Kreuzberger Nacht sitze und auf die schweren Tasten der Maschine prügle. In jeder Prügelpause schwillt das Geheul an, je länger die Pause, desto lauter. Gegenüber hinter anderen Fenstern andere Köpfe unter Lampen. Auch sie hören das Nachtkonzert der alten Frauen. Nur deswegen sind wir wach. Wir sind die Zukunft. Wir lernen. Im Geheul arbeiten wir besser. Hier lernen wir, man kann nicht neu anfangen, nicht neu starten. Man kann nur weitermachen. Der Befund ist grausig. Wenn es morgens hell wird, wünschen wir, die alten Frauen mögen zur Ruhe gekommen sein. Wir wissen, sie leben in uns weiter wie alles alte, vergangene. Dann steigt die Sonne, wir müssen schlafen, die Nacht war lang, für alle. Aber in Kreuzberg wird kein Tag hell. Kreuzberg ist vergessen und verloren wie die alten Frauen, es schmeckt bitter. Da will ich nicht ergrauen. Also weg.

 27. Dezember 2015

 

 

 

Nachkrieg Vorkrieg 1: Jugend forscht

Vergangenheit aus dem Staub. Alle Schalter zeigen vorn. Die Alten halten ihr Gestern dicht. Eine Welle geht um die Erde, wird breiter und höher. Sie ist der Plan, wie es weitergeht. Die Welle hält dich, wenn du haltlos bist, sie hat Sinn, System, Abschluss und Anschluss, sie spült nach oben, sie spült nach vorn, was sonst im Trüben bleibt. Du weißt so viel, das du nicht wissen willst. Dann suchst du die Welle, die dich tragen soll wie sonst. Aber die Welle ist weg. Sie ist gekauft worden vom Geld und nimmt jetzt Eintritt. Welle ist Alles ist Welle. So lässt sich nicht leben, Beruf ergreifen, Stelle bekleiden, Amt ausfüllen, hier läuft der falsche Film. Ich brauche eine andere Welt. Wir brauchen eine andere.

 

Ich bin allein und bin verbunden, wir erkennen uns, ohne uns zu sehen, wir sprechen die gleiche Sprache, die nur wir verstehen, uns gefallen dieselben Sachen, wir sagen dieselben Wörter, jeder in seiner Sprache, wir sind eine Macht ohne Macht. Die große Welle ist weggekauft, neue tauchen auf, wir springen drauf, sie halten uns. Für jede Welle, die in der großen gekauften verschwindet, tauchen zwei neue auf. Das Geld kann Wellen nur kaufen, aber nie erschaffen. Daran wird gearbeitet. Die Welle wird Systemchefsache.

 

Anders beim bewaffneten Kampf. Mit ihm ist kein Wellengeld zu machen bis auf Che-Guevara-Shirts. Das System vernichten. Ignorieren, geht nicht, abschaffen, geht nicht, sprengen, kann man versuchen. Schweinesystemmasken in die Luft sprengen, nicht mit klammheimlicher, sondern mit großer Freude. Terror verbreiten, genau jenen Ernst über das Land legen, der in Gesichtern junger Menschen steht, die noch keine Masken sind. Über Länder hinweg und Kontinente, auf den Lippen die gleichen Lieder, ohne Heer und ohne Marsch. Man tut es für den Frieden und muss vorher Krieg führen. Das System versteht.

 

Machst du keinen Spaß, versteht das System, denn es versteht keinen Spaß, den es nicht selbst herstellt. Das System schlägt hart zurück, wirft deine Freunde ins Gefängnis, droht dir damit und macht ein Angebot. Sieht aus, als weicht es langsam von der Stelle, als weicht es auf. Irrtum. Das ist sein Sieg. Du magst es nicht zugeben: Du fühlst dich verstanden. Du hast das System unterschätzt. Es geht auf große Einkaufstour und sammelt deine Freunde ein. Alles ist Welle ist Alles.

 

Du denkst, der Krieg ist zu Ende, und du irrst. Hier wird einer beendet, dort beginnt ein neuer. Man weiß das. Jahre ohne Krieg nennen wir kalten Krieg, denn Krieg muss sein. Man will es nicht zugeben und vom Frieden träumen und tut es. Im Namen des Friedens erscheint der Weg zum nächsten Krieg. Frieden hält niemand aus. Ein Frieden ist Phantomschmerz.

 

In deinem Kopf sind die ganz großen Begriffe, weil sich alles in großem Maßstab ändern muss. Mit großen Begriffen im Kopf gehst du in kleinen Schritten in deinem Leben hin und her. In besten Momenten fühlst du dich ungefähr so groß, wie deine Gedanken sind, die irgendwelche Meisterdenker oder Menschenfänger zitieren, in anderen Momenten merkst du, die Sprünge in deinem Kopf passen nicht zu deiner Schrittlänge. Du willst diese Zweifel überstehen und an dein Ziel glauben, sonst kommst du nie dort an. Es reißt in dir, manchmal reißt etwas mitten in dir auf und durch.

 

Du willst Bonzen samt Autos in die Luft sprengen, das Schweinesystem zur Hölle jagen, aber du wirst es nicht tun, du kennst die falschen Leute. Solche, die bei sich selbst anfangen, gegen Eltern, Schule, Universität holzen, die alte Welt, den Krieg, und irgendwas mit Kunst daraus machen wollen. Krieg der Kunst! Krieg dem Krieg! Es ist ein Hass in dir, den du nicht kanntest. Hass war den Alten ins alte Gesicht geschrieben und schlug dir aus ihren Wörtern entgegen, sie brachten Kriegshass mit und traktierten damit die von Mutti geborene Unschuld, dich, so dass du dich von früh an schuldig fühlst für etwas, das nicht zu begreifen ist. Du fliehst vor dem Hass, schwörst, nie zu werden, wie die Alten sind, baust dir Ersatzwelten mit Ersatzgefühlen und bringst dich in Sicherheit, so lange die Familienblase hält, jedenfalls dem Anschein nach. Die geborene Unschuld, die sich seit ihrer Geburt schuldig fühlt, entdeckt die Welt, also Sex und Politik, und damit ihren Hass und versteht sich nicht und weiß nicht, wo hin mit ihm, und will jetzt hassen, die Kraft dazu ist da. Es müssen unbedingt Bomben gebaut werden! Es muss umgeschmissen, geschlagen und geschossen werden! Explosionen, bitte! Nichts Gültiges gilt mehr! Schon wieder fängt was neues an, täglich, stündlich, jede Minute. Ununterbrochene Revolution, sieht irgendwie aus wie Panik und könnte Panik sein. Du weißt nicht, wer du bist.

8. Dezember 2015

 

 

 

Pause in Kyoto