Essays

Kippenberger und Skoda

1975: Der Vietnamkrieg wird beendet, Helmut Kohl ist erstmals Kanzlerkandidat, Margaret Thatcher Parteivorsitzende. Das Volljährigkeitsalter wird von 21 auf 18 Jahre gesenkt. Blickt man heute auf Chroniken der siebziger Jahre, dann bekommt dieses Jahrzehnt etwas Uneigenes, fast Inexistentes. Als sei es nur als Scharnier zwischen den Sechzigern und Achtzigern gebraucht worden. In den Siebzigern ritualisiert sich der politische Jugendprotest zur Steineschmeißfolklore, und die Ideologie der Achtziger, der Neoliberalismus, wird vorbereitet. Ähnliches in der Popmusik: Die Innovationen der Sechziger sind reif für den Mainstream und werden aufgehübscht. Die elektrische Pop-Epoche, die nach einem kurzen heftigen Punkgewitter die Achtziger prägen wird, fiept schon aus den Synthesizern. Protestbewegungen werden zu Bürgerinitiativen, man ist nicht mehr links, sondern alternativ, und die Hippies lagern nicht mehr in Innenstädten, sie verziehen sich aufs Land oder in den Süden, vorzugsweise nach Ibiza – zusammen mit Gomera Mitte der Siebziger der erste Platz für europäische Hippies und Gleichgesinnte, die ein bürgerliches Leben umkurven wollen, solange sie jung sind. Auf Ibiza lernen sich 1975 Claudia Skoda und Martin Kippenberger kennen. Er ist 22 Jahre alt, sie neun Jahre älter.

 

"Claudia Skoda – chic in Strick, kennengelernt in San Carlos, Anitas Bar, mit vielen Schönen am Tisch drumrum" schrieb Kippenberger später darüber. Für den jungen Mann, der mit vier Schwestern aufwuchs, eine so vertraute wie komfortable Situation: Eines der Skoda-Models wird später seine Ehefrau. Aber erstmal ist er auf die ältere Skoda fixiert und sucht ihre Nähe. Sie stellt schon Sachen in Eigenarbeit her, von denen sich vielleicht leben lässt, und er will es auch. Das bürgerliche Leben soll bleiben, wo es ist und bloß nicht zu nah kommen. Man steht vor dem Problem, Klamotten zu bekommen, die die Lebenshaltung betonen, aber bezahlbar sind. In den vielen großen und kleinen WG′s ist es üblich, dass jemand näht oder Gekauftes umstylt. Schließlich darf man nicht das Zeug der Massen tragen, und für seltene gute Klamotten reicht das Geld nicht. Claudia Skoda, die aus einer Schneiderfamilie stammt, hat den entscheidenden Vorsprung, dass sie die Techniken kennt und Geschmack hat. Die Nähe zu ihr inspiriert Kippenberger, vermutlich schaut er ihr ab, wie man als Produzent seiner eigenen Sachen leben kann; viele junge Künstler, die noch niemand kennt und die sich nicht durch Institutionen dienen, tun das, müssen das so tun. Ein Jahr später zieht er in Skodas Fabriketage in Kreuzberg. Und filmt und filmt und fotografiert und fotografiert. Was? Die anderen. Seine Umgebung. Du fängst da an, wo du bist. Wie du etwas siehst, so siehst nur du es. Jeder Blick produziert ein Original. Ohne diesen bestenfalls sympathischen Größenwahn wird man kein Künstler. Völlig klar also, dass Kippenberger die über tausend Fotos einer Woche Leben von Skoda nennt und sie gern verewigt hätte. Genau dort, wo sie im Moment, 1976, herumliegen, auf Skodas Boden in der Zossener Straße.

 

1976: Ulrike Meinhof erhängt sich in Stammheim, Erich Honecker wird Generalsekretär der SED. Abtreibung in den ersten drei Monaten Schwangerschaft wird straffrei. Noch so ein Übergangsjahr. Westberlin ist ein trister verhangener Ort. Seine Schönheit besteht aus seiner Leere und der Abwesenheit von Marktstress. Der Vorteil: Das Leben kostet fast nichts, man hat Zeit und Geld, und hier treffen sich all die gescheiten Existenzen, die es in der westdeutschen Provinz nicht aushalten. Dieser Vorteil ist entscheidend. Hier kann man unbelästigt von Konsumwahn, Rendite und Optimierungsdruck Künstler werden. Eine Provinz ganz besonderer Art.

 

Die Fotos liegen auf dem Boden in der Zossener Straße und sollen dort versiegelt werden. Der Boden wird einiges aushalten müssen, auf ihm sollen die nächsten Präsentationsparties der Skoda-Sachen stattfinden. Auf der Suche nach Versiegelungstechniken taucht Kippenberger am Savignyplatz auf, wo der Künstler Pico Risto den Boden des Fotoladens Dunkelkammer, der demnächst eröffnet, versiegelt. Kippenberger erkundigt sich nach der Technik, mit der Risto vorgeht, es handelt sich um Bootsiegellack. Um es selbst auszuprobieren oder um zu provozieren, oder aus beiden Gründen, bei Kippenberger wusste man das nie genau, nimmt er einen Quast in die Hand und überstreicht ein paar lose angeheftete Fotos an der Wand. Der Lack wirkt, die Fotos kleben, und Pico Risto geht an die Decke. Mit Streit konnte Kippenberger ganz gut leben. Pico Risto hat sich 2013 in der Nummer 100 der Zeitschrift Lettre daran erinnert mit der Fotoinstallation VEB Haut in Kippenbergerblau.

 

Wer so alt ist wie Kippenberger (ich zum Beispiel), hat die Studentenbewegungs- und Hippiezeit ebenso erlebt wie die Jahre des Punks; die eine Zeit als Pubertierender, die andere als halbwegs Erwachsener. Kippenbergers Erscheinung verweist nicht darauf, dass er sich einer dieser Strömungen zugehörig fühlt. Ich wohne damals schräg gegenüber dem Dschungel in der Nürnberger Straße. Dort lasse ich meine Schreibnächte ausklingen und treffe Freunde. Kippenberger steht öfter an der Theke, meistens ziemlich aufgedreht und in Gesprächen. Er kleidet sich nicht wie jemand, der aus den Siebzigern kommt, aber auch nicht wie die Punks und anderen bunten Vögel dort. Sein Haarschnitt ist verblüffend normal und ereignislos, was damals durchaus auffällt. Meistens trägt er einen grauen Anzug. Immer sind die Hosenbeine zu kurz.

 

Das ist Ende der Siebziger. Endlich beginnen die achtziger Jahre. Die Optik Westberlins wird nach und nach von Schwarzweiß auf Farbe umgestellt. Deutsch-Amerikanische Freundschaft singen "Die Wirklichkeit kommt". Jetzt ist auch der Dschungel Teil des Mainstream. Und die Namen Martin Kippenberger und Claudia Skoda endlich stadtbekannt. Auch in den anderen großen, wirklichen Städten.

 

(c) Bodo Morshäuser