Tageslicht 6

Ry Cooder: Vigilante Man

Alles muss raus. Klamotten

Es war der Tag gekommen, an dem ich blaue Müllsäcke in der Küche aufspannte, um in ihnen Sachen zu versenken, die ich lange nicht getragen hatte, die ich nie mehr tragen wollte oder die ich versäumt hatte wegzuwerfen. Am Ende wollte ich mit einem kleinen Stamm guter Kleidungsstücke mich für immer aus der Wohnung verabschieden und alles andere, das mir in die Finger kam, vorher, also von nun an, in die blauen Säcke werfen.

 

Von der Küche gingen zwei Kammern ab. Die große war mein begehbarer Kleiderschrank, dort hingen Mäntel, Jacken, Hemden, Hosen und Gürtel, alles andere war in einem Schrank verstaut. In der kleinen Kammer, die nur über die große Kammer zu erreichen war, hatte sich von Werkzeug bis alten Uhren sämtlicher Kram angesammelt, der gebraucht oder nicht gebraucht wurde. Zwei alte Wintermäntel und ein Parka füllten den ersten blauen Sack, zwei Sommermäntel und mehrere Paar Schuhe sowie zwei formlos gewordene Winterpullover den zweiten. Keines dieser Teile hatte ich in den vergangenen fünf Jahren getragen. Ich hatte diese Sachen nicht mehr gesehen, wenn ich die Kammer betreten hatte, was ja täglich der Fall gewesen war. Es war deprimierend, vor Augen zu haben, was ich nie beiseite geräumt hatte, und es war erleichternd bis erhebend, zu neuer Übersicht zu gelangen, auf Lücken zwischen den Klamotten zu schauen und dadurch manche erst zu Gesicht zu bekommen.

 

Warum sollte es mit meiner Person anders gewesen sein, überlegte ich in einer Pause, warum sollte ich einen Schimmer von meiner Person gehabt haben, mit der ich täglich beieinander war, wenn ich keinen Schimmer von den Klamotten hatte, die täglich vor meinen Augen hingen.

 

Ich breitete die nächsten Müllsäcke aus und warf ewig ungetragene Hemden, zu schmal gewordene Hosen, formlose Pullover, Jacken und Westen hinein, Unterwäsche, von der ich nichts mehr wusste, Socken, die ich nicht kannte, sowie anderes Zeug, das eindeutig in andere Jahrzehnte gehört hatte, hinterher. Ich hatte vier volle Müllsäcke in der Küche stehen, und in der Kammer hingen immer noch die Kleidungsstücke, die ich mochte und in der vergangenen Zeit getragen hatte. Ich trug das Zeug hinunter und füllte einen ganzen Müllcontainer damit.

 

Erst jetzt war ich in der Lage, in der Kammer die Dinge sehen, die hinter der letzten vollen Reihe mit alten Klamotten auf dem Boden abgestellt waren: Von meinem Vater vor Jahrzehnten selbstgeknüpfte Teppiche, von deren Anwesenheit in meiner Wohnung ich absolut nichts gewusst hatte, die trotz ihres Alters nahezu unbenutzt waren und mir so gut gefielen, dass ich sie behalten und mitnehmen wollte. In der großen Kammer stieg ich auf den eingezogenen Boden und entdeckte alte Koffer und Schlafsäcke aus einer Zeit, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte, Stapel von alten Tonbändern aus der viertletzten technologischen Epoche, sowie aus der drittletzten Epoche zwei Videorekorder, die das Gewicht von Röhrenfernsehtruhen aus der Zeit hatten, als ich gerade auf die Welt gekommen war. Nachdem ich die auf den Küchenboden gewuchtet hatte, war ich fix und fertig für diesen Tag.

 

Nie hatte ich in Zimmern mit vielen Möbeln und anderem herumstehenden Zeug leben wollen, sondern immer in ausgesucht schmucklosen Räumen, und nie hatte ich in vollen Zimmern gewohnt, sondern von Anfang an dafür gesorgt, dass alles, was ich benötigte und, wie ich mir nun zugeben musste, auch alles, was ich überhaupt nicht mehr benötigte, anderswo untergestellt werden konnte, zum Beispiel in großen Kammern wie diesen. Diese Vorstellung von Wohnungseinrichtung umzusetzen war mir gründlich gelungen, dachte ich. An diesem Tag, als die nächsten vier Müllsäcke gefüllt waren, die ich jetzt nicht mehr hinuntertragen konnte, da die Container im Hof randvoll waren von den vorigen vier, hatte ich zum ersten Mal seit Jahren vor Augen, was der Preis war für meine nach außen hin karge Wohnungseinrichtung: Haufen von Schrott, der nicht zu sehen war, den selbst ich nicht gesehen und von dem ich in den letzten Jahren nichts mehr gewusst hatte, bis zu diesem Tag.

 

Jeder dieser Auf- und Ausräumtage endete mit der gleichen Prozedur, dem Duschen nach dem Staubaufwirbeln. Am nächsten Tag nahm ich mir die kleine Kammer vor. Am übernächsten Tag, als ich endlich eine Art Durchblick in den Kammern hatte, entdeckte ich immer noch Zeug, von dem ich mich trennen wollte. Ich hatte es erst sehen können, nachdem der andere Schrott fortgeschafft war.

7. November 2013

 

 

Ry Cooder, Bobby King: Chain Gang

Alles muss raus. Schallplatten

Es war abzusehen, dass die Entscheidungen, welche Bücher bei mir bleiben sollten, sich hinziehen würden. Also baute ich mich vor den Regalmetern mit Schallplatten auf. CD′s auszusortieren, war einfach, Schallplatten auszumustern, war schwierig, sie waren mit meinen Lebensjahren und Erinnerungen verknüpft. Ich hatte nie meinen Schallplattenspieler abgeschafft, weil ich so viele Schallplatten besaß. Neben der früher jeweils aktuellen Musik waren da einige Meter Klassik sowie Aufnahmen unterschiedlichster Stile und Ethnien, die außer bei mir nirgends mehr zu haben waren. Musik war für mich entweder gute oder schlechte Musik gewesen, egal worum es sich handelte, so kam das ganze abseitige Zeug in die Regale, vor denen ich jetzt saß mit der Frage ja oder nein. Um mich zu entscheiden, musste ich nicht alle, aber sehr viele auflegen und mindestens die Anfänge der Stücke so weit hören, bis ein Urteil zu erkennen war. Das dauerte Wochen, und so ging ich in der Folge zwischen den Bücherregalen und den Schallplattenregalen hin und her und erholte mich bei dem einen Regal von der monotonen Beschäftigung mit dem anderen Regal.

 

In der Zwischenzeit hatten sich ein paar neue CD′s angesammelt, die ich noch nicht gehört hatte. Ich nahm sie mit in meine alte Wohnung und ließ sie im Hintergrund laufen, während ich Bücher aus dem Weiß-nicht-Stapel anschaute. Als im Hintergrund neue Aufnahmen von Mount Kimbie liefen, meinte ich zu hören, ein Stück darauf würde genauso beginnen wie früher einmal ein Stück von den Residents begonnen hatte. Kurz darauf meinte ich auf der selben CD einen Chor zu hören, der eindeutig einer Gesangsstelle bei den Doobie Brothers ähnelte. Ich hörte die beiden Stücke noch einmal an und kam zum selben Ergebnis. Daraufhin legte ich die Weiß-nicht-Bücher beiseite und nahm aus dem Achtzigerjahrestapel jene Platte von den Residents, auf dem vierzig Einminutenstücke drauf sind und suchte das Stück, das ich meinte. Ich hörte die Passage bei Mount Kimbie an, die mir der Residents-Stelle so ähnlich erschienen war und hörte, sie war ihr nur in meiner Erinnerung ähnlich gewesen. Meine Erinnerung an das Residents-Stück hatte wenig zu tun mit dem Residents-Stück von damals. Mount Kimbie hatte zwar irgendeine Erinnerung wachgerufen, aber keinesfalls eine an das Stück der Residents, sondern eine, die ich für eine Erinnerung an das Stück der Residents halten wollte.

 

Dann zog ich die Doobie-Brothers-Scheiben aus dem Siebzigerjahrestapel und suchte das Lied, an das ich durch ein anderes Mount Kimbie-Stück erinnert worden war. Als ich es endlich fand, verglich ich es mit dem Mount Kimbie-Stück, und wieder geschah das, was bei den Residents geschehen war. Die Stücke ähnelten sich weniger als ich vermutet hatte, meine Erinnerung allein hatte sie einander ähnlich gemacht. So ist das also mit den Erinnerungen, dachte ich, wir erinnern uns nicht an etwas, das so gewesen war, wie wir es erinnern, sondern wir erinnern uns an Reize oder Signale, die wir dann mit etwas verbinden, das materiell ist, und denken, wir hätten uns an das Materielle erinnert, dabei haben wir uns nur an Reize und Signale erinnert, die wir, um sie benennen zu können, mit etwas Benennbarem verbinden.

 

Bis ich diese vergleichende Überprüfung durchgeführt hatte, hatte ich mir innerlich das alte Lied erzählt, dass die Musik ab Ende der Siebziger Jahre nicht mehr erneuert, sondern nur noch wiederholt, revolviert, im besten Fall remixt worden sei. Was es längst schon gegeben habe, sei noch einmal aufgegriffen und mit den jeweiligen neuesten technischen Geräten auf die Stufe der Gegenwart gehoben worden, eine neue Musikrichtung aber sei nie mehr entstanden seit den wahnsinnigen zwanzig Jahren von 1960 bis zu den Formel-Eins-Gitarristen, die zuallererst die Jahre rasenden audiotechnischen Fortschritts gewesen waren.

 

Jetzt hatte ich den Eindruck, diese sowieso unter dem Verdacht der Selbstgefälligkeit stehende Ansicht habe nur entstehen und sich halten können, weil ich die alten Stücke nicht mehr wirklich mit den neuen Stücken verglichen und zu schnell gedacht hatte, das kennte ich doch, das hätte es ja längst gegeben. In Wirklichkeit aber, so musste ich jetzt nach meiner Hörprobe denken, war ich niemals an wirkliche Lieder von damals erinnert worden, sondern an Reize und Signale, die von ihnen ausgegangen waren, die sich festgesetzt hatten und die ich mit bestimmten alten Liedern verbunden hatte, um das Wiedererkennen überhaupt benennen zu können. Die Signale und Reize der Lieder, an die ich mich erinnerte, waren aber nicht die Lieder selbst, sie hatten mehr mit mir, dem Hörer, als mit den Liedern zu tun, die ich früher gehört hatte. Das war die Erkenntnis dieses Tages, als ich eigentlich Boards of Canada und Tokyo Black Star hören wollte, aber Mount Kimbie auflegte und meinte, ich hörte die Residents und die Doobie Brothers.

 

Die Sechziger-, Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahrestapel hinzustellen und das Unbrauchbare beiseite zu tun, stellte kein Problem dar, die Entscheidungen waren schnell getroffen. Am längsten hielten mich Erinnerungen an Live-Konzerte auf. Über zwanzig Jahre lang hatte ich so viele Gruppen, die den Weg nach Westberlin gefunden hatten, live gesehen, dass ich beim Wiederauflegen zwar die Platten hörte, aber viele Bands sah, wie sie bei ihren Auftritten ausgesehen und gespielt hatten, und mich außerdem zu erinnern gemeint, wie ich damals ausgesehen hatte, mit wem ich bei den Konzerten gewesen war, was vorher und nachher geschehen und wieviele Tage lang ich hinterher halb taub gewesen war. Ich vermutete, es war alles Lug und Trug, was ich erinnerte, aber ich konnte nichts tun gegen die Bilder, die sich zeigten, wenn ich Musik von damals hörte.

 

Am meisten Mist sortierte ich bei den Achtzigern aus. Schwieriger war die Entscheidung bei Jazzplatten, als ich lange Zeit nicht glauben wollte, dass Lee Ritenour mir mit seiner Musik absolut nichts zu sagen hatte. Er war doch so ein blendend guter Gitarrist, dachte ich, aber auch andere Jazzaufnahmen aus den späten Siebzigern waren von einer Gefühlskälte, die mich erstarren ließ, und zuvorderst ging die Kälte von den Gitarristen aus. Meine Erinnerung an sie war eine ganz andere gewesen.

 

Meiner Erinnerung, lernte ich, war absolut nicht zu trauen. Meine Erinnerungen waren im Grunde Täuschungen. Mit meinen Erinnerungen schaffte ich Erzählungen, die nichts mit der Vergangenheit zu tun hatten, jedenfalls nicht mit meiner. Meine Erinnerungen sind pure Phantasie, dachte ich. Das Zuverlässigste an meinen Erinnerungen ist ihre Unzuverlässigkeit, dachte ich und ging hinunter zu Carl, um eine Flasche Wein zu kaufen.

12. Oktober 2013

 

 

B.B. King, Jeff Beck, Eric Clapton, Albert Collins & Buddy Guy : Live at the Apollo Theatre

Alles muss raus. Bücher

Bei jedem meiner Besuche in der alten Wohnung hatte ich, wenn ich im Flur an den Bücherreihen vorbeigegangen war, diesen oder jenen Titel, den ich nicht zu kennen meinte oder nicht wiedererkannte, aufgeschlagen, und jene, die ich nicht mehr bei mir haben wollte, auf anfangs kleinen, jetzt meterhohen Stapeln am Rand des Flurs getürmt. Ich stellte eine Leiter in den Flur und nahm jedes Buch aus den oberen Reihen in die Hand, um es anzuschauen und zu entscheiden, was mit ihm geschehen sollte. Abgesehen davon, dass ich mich auf eine Reise durch hunderte von Jahren geschickt hatte, war das Wühlen in alten Büchern, wie schon das Durchsehen der Notiz- und Tagebücher, der Briefe und Fotos aus meiner Schatztruhe, die gleichzeitig mein Giftschrank war, eine unaufhörliche Reise durch fünf Jahrzehnte erlebten Lebens und Lesens, und ebenso durch Jahrzehnte verschiedenster Schwerpunkte der Buchproduktion, also der unterschiedlichsten Lesemoden. Ein paar Jahre lang druckte und lobte man Bücher über die Arbeitswelt, ein paar Jahre lang Bücher über den Einzelnen, ein paar Jahre lang ging es um Kriminelle, dann um Kranke, dann um Irre, dann um irrtümlich für irr erklärte, dann um Diktaturbewohner, dann um Lateinamerikabewohner, dann um Frauen, um Kinder, um Vergessene und Übersehene, und immer wieder um Klassiker, moderne Klassiker, modernste Klassiker. Die Kollektionen rauschten an mir auf der Leiter vor den Regalen vorbei wie Modekataloge, und wie in der Mode erschien mir manch Altes verblüffend gegenwärtig, manch Gleichaltes dagegen als restlos von vorgestern. Auch aus meiner Kleiderkammer hatte ich ein paar Stücke vor der Vernichtung bewahrt, die ein halbes Dutzend ihnen nachfolgender Moden überdauert hatten und in diese Zeit und ihren Geschmack passten, für die sie nie gefertigt worden waren. Wenn ich dann noch manche in die Bücher gelegte Rezensionen aus den Feuilletons las und mich über ihren entschiedenen, meinungsfesten Ton wunderte, mit dem sie den Lesern einimpfen wollten, dass es sich bei diesem oder jenem Buch um absolut Schwergewichtiges, Epochales, Weltbewegendes, ja, die Welt veränderndes handelte, so dass ich darüber in Lachanfälle ausbrach, mich krümmte und acht geben musste, nicht von der Leiter zu fallen, dann stellten sich ganze Jahrzehnte in einer Übersichtlichkeit dar, dass ich zum ersten Mal im Leben verstand, wie jemand auf die Idee kommen kann, seine Lebenszeiterinnerungen schreiben zu wollen oder zu können. In den Buchbesprechungen las ich, dass nach dem einen Buch angeblich nichts mehr so war wie zuvor, oder dass nach einem anderen Buch die Geschichte neu geschrieben werden müsse. Wie fremd dieser hohe Ton mir inzwischen vorkam, dachte ich, und wie üblich er damals gewesen war. Für manche der damaligen Rezensionen, die ich in Händen hielt, waren ganze Doppelseiten von Wochenendbeilagen freigeräumt worden, auch wenn ihr Gegenstand nur ein schmaler Band gewesen war. Wie dürr und oberflächlich das meiste, das in der Gegenwart über Bücher zu lesen ist, dachte ich. Ich hielt ein Hundertfünfzigseitenbuch aus dem Jahr Neunzehnhundertneunundsiebzig in der Hand, las den Anfang und danach eine Besprechung dieses Buches. Über die erste Buchseite hatte der Rezensent drei Zeitungsspalten gefüllt und darin jeden einzelnen Satz dieser ersten Buchseite zitiert. Aus meinem Lachen war Staunen geworden über eine Zeit, in der Bücher mit Leidenschaft betrachtet worden waren, in der Kritiker das Buch, das sie zum Thema hatten, vom ersten bis zum letzten Satz gelesen, vielleicht zweimal gelesen hatten, eine Zeit, in der Kritiker gegeneinander angeschrieben und ihren Begriff von Literatur verteidigt hatten, der für ihren Kritikerfeind naturgemäß der verabscheuenswerteste gewesen war.

 

Ob das gutgehen wird, fragte ich mich, so viel Staub aufzuwirbeln und keinen Schaden davonzutragen, ich konnte den Bücherstaub nicht nicht einatmen, die ganze Prozedur auf der Leiter dauerte ewig, erstens las ich mich in manchen Büchern fest, zweitens wusste ich bei sehr vielen Werken nicht, ob ich sie wirklich behalten wollte. Ich baute Ja-, Nein- und Weiß-nicht-Stapel an die Flurwand und drehte zwischendurch immer mal wieder eine Runde durchs Viertel oder um den Stadtparksee, um gute Luft zu atmen und an anderes zu denken, oder ich leistete Carl in seinem Weinladen Gesellschaft, um über Fußball zu reden und ein Gläschen zu trinken.

3. Oktober 2013

 

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