Tageslicht 18

Verstecken spielen

Allgegenwärtig waren das Versteckte und das Verheimlichte, das Verborgene und das nicht Vorzeigbare. Hinter jedem Offensichtlichen wohnte Hintergründiges. Es gab eine Welt und eine Welt dahinter, Sichtbares und Unsichtbares. Sie war nicht so wie sie schien. Wie war sie dann? Um das herauszubekommen, mussten Verstecke gefunden, Geheimnisse entlarvt, Täuschungen offenbart und Lügen erkannt werden. Der Weg zur Wahrheit führte über die Enttäuschung. Die Kinder spielten Verstecken.

 März 2024

 

 

Wiedervorlage: Hans-Georg Maaßen

In der "Zeit" klagte 2013 der seit einem Jahr im Amt befindliche ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen über die Verunsicherung in seiner Behörde seit klar war, dass es die rechtsterroristische Vereinigung NSU gegeben hatte. Die Mitarbeiter kämen mit dem Druck der Öffentlichkeit schlecht zurecht. In einem "Politischen Feuilleton" für Deutschlandfunk Kultur fragte ich mich, was für ein Demokratieverständnis dahinter hinter den Äußerungen von Hans-Georg Maaßen wohl stand.

 

Hier der unveränderte Text aus dem Jahr 2013:

 

Die Hoffnung währte nur kurz. Gerade war bekannt geworden, dass mehrere Verfassungsschutzämter eine zweifelhafte Rolle gespielt hatten und immer noch spielten, indem sie zum Beispiel Akten schredderten, die in Sachen NSU zur Ermittlung hätten dienen können. Da traten, nach und nach, vier Chefs von Landesämtern und auch der Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz zurück. Die Hoffnung, dass sich bei den Sicherheitsbehörden etwas ändern würde, schien begründet zu sein.

 

Seit August 2012 ist Hans-Georg Maaßen der neue Präsident des Bundesverfassungsschutzes. Vor wenigen Tagen nun gab er der Zeitschrift „Die Zeit“ ein Interview. Und dort belegt er mit rhetorischen Finessen eindrucksvoll, dass die erhofften Veränderungen beim Verfassungsschutz nicht in Frage kommen.

 

Selbstverständlich sagt Maaßen, die NSU-Morde betreffend sei Aufklärung und Transparenz notwendig. Doch wie ernst ist es ihm damit? Über einige seiner Äußerungen lässt sich trefflich staunen.

 

Er sagt, die Mitarbeiter seines Amtes seien verunsichert und schockiert, weil das Amt seit Bekanntwerden des NSU im Mittelpunkt stehe. Mit anderen Worten: Der Verfassungsschutz leidet darunter, dass der NSU aufgeflogen ist, dass einige Verfassungsschutzämter vorher dem NSU nahestehende Mitarbeiter hatten, und dass die Bürger sich für die Rolle des Amtes in dieser Angelegenheit interessieren. Ich beginne gleich mitzuweinen. Denn schließlich, so weit ist es gekommen, verfüge das Amt seit der Debatte über die Enttarnung von V-Leuten über weniger Quellen in der rechtsextremen Szene als zuvor. Die Öffentlichkeit, so lässt sich das verstehen, steht dem Amt einfach nur im Weg bei der Arbeit.

 

Ich frage mich, was für ein Demokratieverständnis steht dahinter?

 

Einen Einblick gibt folgende Aussage: „Dass wir überhaupt das Ansinnen haben, Vorratsdaten durch Unternehmen speichern zu lassen, wird schon als Skandal empfunden.“

 

Das Demokratieverständnis von Herrn Maaßen zeigt sich in dem Wörtchen „wir“. Auf der einen Seite wir, der Staat, der das Ansinnen hat, Vorratsdaten speichern zu lassen, auf der anderen Seite Bürger, die das als Skandal empfinden und ihren Protest äußern. Um es ganz klar zu sagen: Die Vorratsdatenspeicherung ist vom Bundestag beschlossen worden. Seine Mitglieder werden von den Bürgern gewählt. Ein Teil dieser Bürger findet die Vorratsdatenspeicherung nicht in Ordnung. Das ist kein Problem, das ist Demokratie.

 

Das Demokratieverständnis des Verfassungsschutzpräsidenten scheint jedoch auszugehen von einer Trennung zwischen Bürger und Staat. Er ist der Staat, wir sind die Bürger. Er will handeln, wir stellen blöde Fragen.

 

Herr Maaßen sagt, das verschwommene Bild, das die Öffentlichkeit vom Verfassungsschutz habe, hänge mit historischen Hypotheken zusammen, und zwar mit der Gestapo- und der Stasi-Vergangenheit. Der Verfassungsschutz leidet also nicht nur unter dem Auffliegen des NSU, er leidet auch unter der Gestapo- und der Stasi-Vergangenheit. Ich dachte bisher, jüdische Bürger litten unter der Gestapo, Deutsche litten unter der Stasi und Einwanderer litten unter dem NSU.

 

Dieser Mann ist zwar kein Fall für den Verfassungsschutz, denn er darf das sagen, aber er ist auch kein Präsident des Verfassungsschutzes, dem ich über den Weg traue.

 

5. Juni 2013, wiedervorgelegt  am 18. August 2023

 

 

Der Pyromane ist verbrannt. Über Rammstein

Und dann das. Erst ein paar Hilferufe auf Social-Media-Kanälen, behauptet wird ja vieles, ich scrolle weiter, die Vorwürfe häufen sich täglich. Ich sehe das halbstündige Video der You-Tuberin Kayla Shyx über ihren Weg von der Row Zero zur After-After-Party mit abschließender Selektion durch Till Lindemann. Wie angefressen sie ist. Ein Fan. Jetzt wohl nicht mehr.

 

Auch ich war Rammstein-Fan, mindestens von Herzeleid (1995) bis Reise, Reise (2004), ich sah alle Berliner Live-Shows. Ab Rosenrot (2005) und endgültig mit Liebe ist für alle da (2009) war es aus. Irgendwann waren alle gespielten Tabubrüche durch. Von da an schale Wiederaufbereitung, auch musikalisch, schließlich das Hamsterrad der Selbstreferenz. Das war sehr schade, wenn auch typisch. Künstler, deren Weg sich verengt und die sich weiterentwickeln wollen, müssen sich wandeln. Oder sie machen weiter wie bisher. Wer will es verübeln.

 

Zehn Jahre lang Fan sein heißt nicht, dass alles aus ist. Alte Liebe verlässt dich nicht. Wir hatten eine schöne Zeit, die Band, ich und mein Freund Emann, der mir damals "Herzeleid" vorgespielt und die Liebesgeschichte angestoßen hat.

 

Mein Freund Emann war ein Kind der DDR. Am 7. Oktober 1969, dem DDR-Feiertag, wartete er mit anderen DDR-Rockfans am Spittelmarkt auf die Rolling Stones. RIAS Berlin und "Bravo" hatten gemeldet, die Stones würden auf dem Springer-Hochhaus ein Konzert Richtung Osten geben. Heute nennen wir das Fake-News. Für die Jugendlichen am Spittelmarkt wurde daraus krasse Realität. Längst von Informanten umstellt, tauchten bald Mannschaftswagen auf, um sie einzuladen, einige flüchteten, darunter auch Emann, doch stellte ein wachsamer Genosse ihm ein Bein. Er stürzte, wurde festgehalten und verhaftet, mit 16 Jahren.

 

Auf die U-Haft in Rummelsburg folgte die Verurteilung zu zwei Jahren Jugendhaus wegen staatsfeindlicher Zusammenrottung. Er war 18, als sie ihn abholten und zurück in die Hauptstadt der DDR brachten. Zwei Wochen später war er in Westberlin. Die Bundesrepublik hatte 40.000 Mark gezahlt.

 

Emann erklärte mir den Text "Der Meister" von der ersten Rammstein-Platte: Die Wahrheit ist ein Chor aus Wind/kein Engel kommt um euch zu rächen/diese Tage eure letzten sind/wie Stäbchen wird es euch zerbrechen. In seiner Ostberliner Schule hatten Lehrer die Vorzüge des Kollektivismus mit dem Bild erklärt, einzelne Stäbchen ließen sich brechen, viele Stäbchen nur biegen. Emann verstand das Bild als DDR-Beschreibung: Die Masse wird zur Einheit geformt, unwillige Einzelne werden vernichtet.

 

Das Rammstein-Lied von 1995 rückte das Bild vom zerbrechenden Stäbchen in den Kontext von Rache: Wir feiern das Ende der Entmündigung, dies sind eure letzten Tage! Die anschließenden Zeilen lauten nämlich: Es kommt zu Euch/als das Verderben. Nur folgerichtig, dass Emann Rammstein-Fan wurde. Auch wenn seine Demütigung, in diesem Fall seine Prägung, schon lange her war.

 

Rammstein-Texte, zumal die ersten, erzählen von Gewalt, sie entstammen einer Kultur der Gewalt und reagieren auf sie, es sind Post-DDR-Texte. Was bei den Musikern, die das abnippelnde System größtenteils als Ostberliner Punks erlebten, kein Wunder ist. Möglicherweise ist Gewalt die Klammer, die eine Rammstein-Biografie von den Anfängen bis zur Causa-Lindemann-Jetztzeit zusammenhalten würde.

 

Mein Freund Emann lebt nicht mehr, und Lindemann ist zum Zitat seiner selbst geworden. Rammstein passte in eine bestimmte Zeit meines Lebens. In die darauf folgende nicht mehr. Doch beachte ich nach wie vor jede Information über das Unternehmen der sechs Berliner. Und nun das.

 

Es ist nicht leicht. Die Meinungsschnellschüsse der ersten Wochen nach dem Video von Kayla Shyx waren flach und erwartbar, alle wussten Bescheid, wie öde. Ich als Ex-Fan kam in ihnen nicht vor.

 

Und der Schriftsteller Jan Faktor, der nach eigenen Worten Rammstein liebt, sich einige Tage gescheut hat, deren Musik zu hören und danach mit einem "Jetzt geht es wieder" erleichtert meldet, er finde sie trotz allem immer noch richtig gut? Er, so scheint es mir, drückt sich um die Frage, ob sein Bild von sich als Fan dieser Band, ob seine Liebe nicht beschädigt ist. Seine Antwort, lese ich aus seinem Text heraus, heißt Nein: "Sonst würde es nämlich bedeuten, dass ich mich jahrelang habe belügen lassen." Was also nicht sein darf, das kann nicht sein?

 

Nachdem der Rauch der ersten Wochen verflogen war, gab es ein paar umsichtige Zeitungsartikel, immerhin. Aber am Ende bist du allein mit dir und deiner Frage, was du da eigentlich geliebt hast.

 

Über das dicke Gitarrenbrett, die griffigen knappen Lieder, die besten deutschsprachigen Texte ihrer Zeit und immer opulenteren Bühnenshows ("Schmierentheater" nannte Gitarrist Landers sie einmal) - über all das hinaus: Stilsicher beherrschten sie zu Anfang das Spiel mit Übertretungen und Tabus, sie waren Meister des Grenzwertigen.

 

Parallel zur rasch wachsenden Fangemeinde war die Rezeption der ersten Jahre geprägt von Verurteilungen, Verdächtigungen und Verweisen auf Nationalismus, Sexismus oder Geschmacklosigkeit. Der Rammstein-Maschine der ersten Jahre konnte das nichts anhaben. Im Gegenteil: In dieser Zeit entstand ihr Weltruhm. Kritik, das war ihr Öl, alles öffentliche Geschrei führte zu stärkerer Fanbindung und steigenden Einnahmen. Die Tourneen dauerten länger, die Stadien wurden größer, Rammstein grüßte die Ränder vom Mainstream aus.

 

Irgendwann unterwegs, für mein Gefühl nach dem dritten oder vierten Studioalbum, hatten sie alle Tabus besungen. Anschließende Missverständnisse oder Geschmacklosigkeiten trugen durchsichtig Kalkuliertes vor sich her, etwa Videosequenzen in KZ-Kleidung, also der Nazivergleich, also das, was einem einfällt, wenn einem nichts einfällt. Mehr und mehr vergaßen die Macher eine der Stärken ihres Travestietheaters: die Ironie. Buchenwald ist nicht lustig. Ein Geruch des Abgeranzten und Peinlichen stieg mir in die Nase.

 

Vermutlich sind auf ihrem Weg von der rohen Metal-Band mit pyromanischen Einlagen zum abgehangenen Feuerwerks-Unternehmen Fans ausgestiegen, sicherlich haben sie weltweit neue gewonnen. Jetzt, nach dem Lindemann-Skandal, werden wieder Fans gehen, deutsche zumal, und weibliche wohl.

 

In anderen Ländern scheinen die hierzulande diskutierten Ereignisse bei Lindemanns After-After-Partys nicht wirklich angekommen zu sein. Die Sängerin Pink sagte am vergangenen Wochenende, von den Vorwürfen gegen Lindemann und sein Team habe sie überhaupt nichts gehört. Als sie informiert war, schrieb sie auf Twitter: "Ja, das ist Scheiße. Totaler Schrott."

 

Hat jemand "Vorverurteilung" gesagt? Es geht hier überhaupt nicht um den Nachweis einer Straftat. Beim künstlerischen Spiel mit Tabus, das Rammstein mit ihren Texten einmal perfekt beherrschten, geht es nicht um realen Tabubruch, sondern darum, alles zu bereiten, damit der Kontakt mit dem Verbotenen in den Fantasien der Rezipienten geschieht. Künstler, die im wirklichen Leben als solche Ungeheuer ertappt werden, die sie dank ihrer Fähigkeiten in den Fantasien der Rezipienten entstehen lassen, haben die Magie ihrer Kunst zerstört.

 

Es ist der Punkt, an dem Fans sich betrogen fühlen. Sie wollen nicht einer realen Horrorgestalt zujubeln, sondern der Fähigkeit solcher Kunst, sich in einen Horror hineinzuversetzen für beschränkte Zeit, ohne ihn real durchleben oder mit dem Künstler persönlich in Beziehung setzen zu müssen.

 

Ich möchte mir nicht unbedingt die Fallhöhe vorstellen, wäre ich heute noch so ein Fan wie zu den Anfängen der Band. Ich weiß nicht, ob ich den tiefen Sturz fühlen wollte. Vielleicht würde auch ich die öffentlichen Vorwürfe gegen Lindemann so gut es geht ignorieren und irgendwas von Behauptungen und Unschuldsvermutung murmeln.

 

So oder so: Alle künftigen von Lindemann gesungenen Lieder werden ein Spotlight werfen auf die reale Person des 60jährigen Sängers, der junge Frauen in einen schwer bewachten Raum kommen, ihre Handys einsammeln lässt und eine Auserwählte mit zu sich nimmt.

 

Die Kunstfigur dieses Sängers, der von Liebe, Sex und Begehren singt, sie ist verbrannt.

 

(Dieser Text erschien im Tagesspiegel vom 14. Juli 2023)